Auslegung von Willenserklärungen

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Die Kunst der Auslegung ist nicht nur im Zusammenhang mit den Bausteinen des Gesetzes, den Tatbestandsmerkmalen (TBM), von Bedeutung, die dann in eine Definition des TBM mündet. Diese Kunst müssen Sie auch für Willenserklärungen beherrschen. Bei beiden Auslegungen (Gesetz oder Willenserklärung) ermittelt man jeweils den Willen: zum einen den des Gesetzgebers, zum anderen den des die Willenserklärung Abgebenden. Bei Willenserklärungen ist der wirkliche Wille zu erforschen, bei Verträgen der Wille der Parteien, wie Treu und Glauben es mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erfordern, §§ 133, 157 BGB.

Beispiel 1: A bietet dem B eine Schiffsladung „Haakjöringsköd“ an. Haakjöringsköd ist norwegisch und bedeutet im Deutschen: „Haifischfleisch“. Sowohl A als auch B sind der Meinung, Haakjöringsköd bedeute „Walfischfleisch“. B nimmt das Angebot an. Wurde der Vertrag über Haifischfleisch oder Walfischfleisch geschlossen? (Denkmal: RGZ 99; 148 ff.)

Beispiel 2: A möchte bei B seine Kaufpreisforderung i.H.v. 10.000 € eintreiben. Als B sich weigert zu zahlen, zertrümmert A das Mobiliar in der Wohnung des B. B besteht auf Schadenersatz i.H.v. 10.000 €, worauf A erklärt: „Steck Dir Deine Schadenersatzforderung an den Hut!“ B verlangt unbedingt 10.000 € von A.

Beispiel 3: A übereignet sein Bauernhofgrundstück an B gem. §§ 873 Abs. 1, 925 BGB. Es entsteht Streit, ob die Kühe und die Traktoren und das Korn auf dem Halm nunmehr B oder noch A gehören.

Beispiel 4: Als der Millionär A stirbt, finden seine entsetzten Kinder folgendes Testament: „Meine Erben sollen die Armen der Stadt sein. Euer Vater“. Die Kinder meinen, sie seien „arm“ und damit Erben.

Die Sprache ist nicht immer ein zuverlässiges Transportmittel für das, was wir sagen wollen. Vielfach sind mündliche und schriftliche Äußerungen und Erklärungen von juristischen Laien aus sprachlicher Ungewandtheit, Nachlässigkeit oder einfach aus Unkenntnis über die Bedeutung und Schwere von Worten oder Wörtern von vornherein unklar formuliert. Gerade Willenserklärungen bedürfen daher häufig der Auslegung! Auslegung bedeutet hier ganz allgemein, hinter den Geschäftswillen des Erklärenden zu kommen, also den Inhalt seiner Erklärung durch Interpretation zu ermitteln. Aber nach welchen Kriterien und Regeln soll das erfolgen? Man könnte zunächst daran denken, den Erklärenden auf das tatsächlich Gesagte „festzunageln“. Wer Haakjöringsköd sagt (Beispiel 1), ist auch zur Lieferung von Haifischfleisch oder zur Bezahlung und Abnahme von Haifischfleisch verpflichtet. Das hätte allerdings die eigenartige Folge, dass zwischen A und B ein Kaufvertrag über einen Kaufgegenstand zustande gekommen wäre, den weder A liefern noch B bekommen möchte. Und an welchen „Hut“ soll sich B seine Forderung stecken? (Beispiel 2) Und wer ist „arm“ in der Stadt? (Beispiel 4) Man könnte weiterhin daran denken, bei der Auslegung einer Willenserklärung ausschließlich den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen, also danach zu bohren, was er „wirklich gemeint“ hat. Dabei bliebe aber der Schutz des Erklärungsempfänger auf der Strecke, der sich ja irgendwie auf das Gesagte verlassen können muss. Das BGB enthält eine Auslegungsregelung für Willenserklärungen in § 133 BGB und stellt zunächst klar, dass nicht das buchstäblich Erklärte, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden maßgebend ist für den Inhalt der Erklärung. Damit beschreibt § 133 BGB das Ideal der Auslegung. § 133 BGB will erreichen, dass entsprechend dem Grundsatz der Privatautonomie das wirklich Gewollte auch verwirklicht wird. Das kann aber nur da gelten, wo kein schutzwürdiger Empfänger vorhanden ist, also bei einseitigen Rechtsgeschäften wie etwa dem Testament. Demgegenüber kann es bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen äußerst bedenklich sein, nur auf den inneren „richtigen“ Willen des Erklärenden abzustellen. Drückt sich dieser unklar aus oder verspricht er sich, wie soll dann der Erklärungsempfänger erkennen, dass etwas anderes im „inneren Willen“ gemeint war, als der Erklärende tatsächlich gesagt hat? Zum Schutz des Erklärungsempfängers ist daher nicht auf den „inneren Willen“, sondern auf den objektiv erklärten Willen abzustellen, d.h. die Erklärung gilt so, wie sie ein objektiver Beobachter aus der Sicht des Erklärungsempfängers vernünftigerweise nur verstehen konnte und musste. „Objektiv“ heißt: unabhängig vom Subjekt und seinem Bewusstsein. Die Auslegung erfolgt also weder danach, wie der Erklärende die Erklärung verstanden wissen wollte noch danach, wie der Erklärungsempfänger sie tatsächlich verstanden hat, sondern danach, wie sie sich aus einem objektiven Empfängerhorizont darstellt. Dieser objektive Maßstab wird nun unter Zuhilfenahme des § 157 BGB festgelegt. § 157 BGB gilt nicht nur für die Auslegung von Verträgen, sondern über seinen Wortlaut hinaus für die Auslegung von Willenserklärungen ganz allgemein und bestimmt, dass der wirkliche Wille „nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ festzustellen ist. Neben dieser allgemeinen Auslegungsregel der §§ 133, 157 BGB enthält das BGB noch Vorschriften, in denen bereits durch das Gesetz selbst festgelegt ist, wie die Erklärungen üblicherweise auszulegen sind, wenn nicht besondere Umstände oder ausdrückliche Erklärungen der Parteien ein anderes Auslegungsergebnis festlegen. Solche „letzten“ Auslegungshilfsbestimmungen sind manchmal an der gesetzlichen Formulierung „im Zweifel“ erkennbar, z.B. § 926 Abs. 1 S. 2 BGB. Eine Fülle von Auslegungsregeln enthält das Erbrecht in § 2066 ff. BGB für letztwillige Verfügungen, in denen der Gesetzgeber den letzten Willen des nicht mehr lebenden Erblassers selbst interpretiert, wenn eine konkrete Auslegung z.B. des Testaments nicht weiter hilft.

Zurück zu unseren Beispielsfällen! Im Beispiel 1 wurde zwar „Haifischfleisch“ jeweils in Angebot und Annahme erklärt. Die Parteien wollten aber „Walfischfleisch“ verkaufen bzw. kaufen. Auch vom objektiven Empfängerhorizont konnten die Willenserklärungen gem. §§ 133, 157 BGB jeweils nur so ausgelegt werden, dass von beiden ein Vertrag über „Walfischfleisch“ gewollt war. Beide Parteien hatten irrtümlich dem Wort „Haakjöringsköd“ denselben falschen Sinn „Walfischfleisch“ unterlegt. Hier gilt die Rechtsregel: „falsa demonstratio non nocet“ (lat.: die falsche Bezeichnung schadet nicht). Im Beispiel 2 können die Worte nach §§ 133, 157 BGB nur als Aufrechnungserklärung i.S.d. § 388 S. 1 BGB verstanden werden.

Im Beispiel 3 legt § 926 Abs. 1 S. 2 BGB die Auslegung fest. Bei der „Übereignung eines Grundstücks“ gem. § 926 Abs. 1 S. 2 BGB wird „im Zweifel“ auch das auf dem Grundstück vorhandene Zubehör (Kuh, Traktor, Weizen) mit übereignet, soweit es dem Grundstückseigentümer gehört.

Im Beispiel 4 gibt § 2072 BGB die Auslegung ausdrücklich vor.