Notstand im StGB – rechtfertigender

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Der Notstand rechtfertigt jede Rechtsgutverletzung, außer der vorsätzlichen Tötung eines Menschen, unter folgenden Voraussetzungen: 1. Es droht eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut. Notstandsfähig ist, wie schon bei der Notwehr, jedes Rechtsgut, mag es dem Täter selbst oder einem Dritten zustehen (sog. Notstandshilfe). Der Hinweis des Gesetzgebers auf Leben, Leib, Freiheit usw. hat nur beispielhaften Charakter („... oder ein anderes Rechtsgut ...“). Eine Gefahr liegt vor, wenn die begründete Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht. Über die Voraussetzungen der Gefährlichkeit entscheidet die Position eines verständigen Beobachters im Nachhinein. Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn sie nach sachverständigem Urteil alsbald oder in allernächster Zeit in einen Schaden umschlagen kann. An dieser Stelle können problematische Überschneidungen mit dem Notwehrrecht entstehen. Man muss sich merken, dass § 32 StGB von einem gegenwärtigen Angriff spricht, während § 34 StGB eine gegenwärtige Gefahr als Voraussetzung normiert. Die Abwehr eines künftigen Angriffs kann die Notwehr niemals rechtfertigen, also in Fällen, in denen ein Angriff überhaupt noch nicht vorliegt, sondern lediglich die Gefahr eines Angriffs besteht. Die Gefahr eines Angriffs – gewissermaßen eine Präventivnotwehr – ist kein gegenwärtiger Angriff, sehr wohl kann sie aber eine gegenwärtige Gefahr darstellen (Augenblicksgefahr, Dauergefahr, Zukunftsgefahr). So besteht in den Beispielsfällen zum Stichwort Notstand für Leben, Leib und Eigentum (Rechtsgüter) der Straßenverkehrsteilnehmer die begründete Wahrscheinlichkeit eines Schadens (Gefahr), die alsbald in einen tatsächlichen Schaden umschlagen kann (Gegenwärtigkeit). Gleiches gilt für die Gesundheit des Joggers John und die der Freundin Ingrid. 2. Es besteht eine Kollisionslage zwischen zwei Interessen – konkreter: Rechtsgütern – unterschiedlicher Qualität, wobei bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegt. Man hat es also immer mit zwei Rechtsgütern zu tun: zum einen mit dem Eingriffsgut, zum anderen mit dem Erhaltungsgut. Dabei muss nun das Erhaltungs(rechts)-gut das Eingriffs(rechts)-gut wesentlich übertreffen. Bei dieser Rechtsgüter- oder Interessenabwägung, der sog. Abwägungsklausel, gibt der Gesetzgeber selbst zwei Abwägungskriterien beispielhaft („namentlich“) mit auf den Weg, nämlich zum einen die Wertigkeit der Rechtsgüter zueinander und zum anderen den Grad der ihnen drohenden Gefahren. Mit diesem Interessenabwägungsgrundsatz als Entscheidungsprinzip wird der Kern des Notstandes umrissen. Eine gängige Formel oder Definition lässt sich hier nicht aufstellen, vielmehr ist bei dem konkret zu entscheidenden Interessenkonflikt – der Kollisionslage – eine alle Gesichtspunkte umfassende Gesamtabwägung erforderlich.

Beispiel: T erschlägt die am Bein des O züngelnde kostbare exotische Giftschlange des Reptilienzüchters R.

Persönliche Interessen (Leben, Gesundheit, Freiheit) rangieren nach unserer grundgesetzlichen Wertordnung grundsätzlich vor materiellen Interessen (Vermögen, Eigentum). Eine wertvolle Hilfe für den Rechtsgütervergleich stellen neben dem Grundgesetz auch die durch den Gesetzgeber selbst vorgenommenen Strafandrohungen dar, da er hierdurch die Wertigkeit selbst erkennbar abgestuft hat. Je schwerer die Strafandrohung, desto gewichtiger das geschützte Rechtsgut.

Beispiel: Nachbar N schlägt die wertvolle Verandatür ein, um das von ausströmendem Gas bedrohte Nachbarskind Otto zu retten.

Sehen Sie, hier ergibt bereits ein Blick auf die Strafrahmen der §§ 211 ff., 223 ff. StGB und § 303 StGB eine Höherwertigkeit der Rechtsgüter Leben und Gesundheit gegenüber dem in § 303 StGB geschützten Eigentum. (Rechtsgüter)

Beispiel: Bei einem Brand in einem Kunstmuseum kann der städtische Bedienstete Schmitz das unwiederbringliche Bild des Malers Picasso „Weinende Frau im Garten“ nur dadurch retten, dass er einen Besucher niederschlägt, der in panischer Angst die Drehtür blockiert (§ 223 StGB).

Nähmen Sie die Abwägung zwischen „Erhaltungsgut“ (Sache) und „Eingriffsgut“ (körperliche Unversehrtheit) allein anhand der durch die Strafandrohung zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen allgemeinen Wertigkeit der Rechtsgüter vor, so müssten Sie zum Vorrang des personalen Wertes als höherwertigem Rechtsgut kommen. Dabei bliebe aber das allgemeine Rangverhältnis der konkret betroffenen Rechtsgüter unberücksichtigt. Das Allgemeininteresse an der Erhaltung des unwiederbringlichen Picasso fällt hier wohl gegen das persönliche Interesse entscheidend ins Gewicht, so dass die tatbestandliche Körperverletzung bei einer Gesamtabwägung gerechtfertigt erscheint.

Beispiel: Ein Arzt wird während einer Party, da andere Hilfe nicht erreichbar ist, zu einem Kind mit Fieberkrampf gerufen. Da die Taxizentrale ständig besetzt ist und die anderen Gäste wegen ihrer Alkoholisierung nicht bereit sind, ihn zu fahren, setzt er sich selbst an das Steuer seines Wagens. Die Polizei stoppt ihn, die Blutprobe ergibt eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,4 Promille.

Die tatbestandliche Trunkenheitsfahrt gem. § 316 StGB ist durch Notstand gem. § 34 StGB gerechtfertigt. Der Blick muss hier auf den Grad der den kollidierenden Gütern drohenden Gefahren gelenkt werden, was in § 34 S. 1 StGB besonders hervorgehoben ist. Auf der Eingriffsseite steht die abstrakte Lebensgefahr für die Verkehrsteilnehmer, auf der Erhaltungsseite aber die konkrete Gefahr für das Leben des Kindes.

Beispiel: Der mehrfach preisgekrönte Bullterrier „Ajax von Amsterdam“ des T verbeißt sich mit der Promenadenmischung „Willi“. T, der die beiden Tiere auf andere Weise nicht trennen kann, erschießt „Willi“.

Eine Gesamtschau der widerstreitenden Interessen muss hier als maßgeblichen Abwägungsfaktor trotz gleichwertiger Eigentumsinteressen die Größe des konkreten Schadens berücksichtigen. Der kleinere Schaden muss hinter dem größeren Schaden zurückstehen. In den drei Ausgangsfällen zum Stichwort Notstand ergibt eine Gesamtwürdigung jeweils eine solche Kollision widerstreitender Interessen unterschiedlicher Qualität. 3. Die Gefahr ist nicht anders abwendbar als durch die Notstandshandlung. Dieses Merkmal entspricht im Wesentlichen dem Merkmal der Erforderlichkeit der Verteidigung bei der Notwehr, wobei allerdings sehr strenge Maßstäbe gelten. Die Rechtsprechung formuliert dahin, dass die Tat das einzige Mittel zur Beseitigung der Gefahr sein muss. Abgrenzungskriterium ist, ob die Tat des Täters in der konkreten Situation nach objektivem, sachkundigem Urteil aus der damaligen Sicht (lat.: ex ante) ein geeignetes Mittel (Grundsatz der Geeignetheit des Mittels) und gleichzeitig das relativ mildeste Mittel darstellt (Grundsatz des relativ mildesten Mittels). 4. Als subjektives Rechtfertigungselement muss, wie bei der Notwehr auch, ein Rettungswille vorhanden sein („... um ... abzuwenden“).

Beispiel: Nachbar N schmeißt aus Neid die herrliche Frontscheibe des neu installierten Wintergartens des X ein. Am nächsten Morgen bedankt sich X für die Lebensrettung; Gas war ausgeströmt und hätte ihn und seine Frau im Schlaf töten können.

Der Rettungswille liegt nur dann vor, wenn der Täter in Kenntnis der Kollisionslage zur Erhaltung des höheren Interesses handeln will. Wer die Kollisionslage gar nicht kennt, kann sich nicht auf Notstand berufen. In diesem Zusammenhang braucht der Rettungswille nicht das einzige oder ein ethisch billigenswertes Motiv zu sein. Wer Unfallflucht (§ 142 StGB) tatbestandlich begeht, ist auch dann über § 34 StGB gerechtfertigt, wenn er das schwerverletzte Unfallopfer sofort ins Krankenhaus transportiert, dies für ihn aber gleichzeitig eine willkommene Gelegenheit ist, seine Trunkenheitsfahrt vor der Polizei zu verschleiern. 5. Die Tat muss gem. § 34 S. 2 StGB ein angemessenes Mittel zur Gefahrenabwehr sein. Über Sinn und Zweck dieser sog. Angemessenheitsklausel besteht heftiger Streit. Die einen meinen, es handele sich um eine Leerformel, da alle hier vorzubringenden Gesichtspunkte bereits bei der „Gesamtschau“ der Interessenabwägung („Waage“) zu berücksichtigen seien, allenfalls sei es eine Erinnerung daran, dass bei der zu entscheidenden Kollisionslage nicht schematisch vorgegangen werden dürfe. Die anderen argumentieren, § 34 S. 2 StGB bilde ein wichtiges Korrektiv für die Fälle, in denen das Verhalten des Notstandstäters trotz des wesentlichen Überwiegens des geretteten Interesses obersten Wertprinzipien der Allgemeinheit widerspreche und als keine am Recht orientierte Lösung der Konfliktlage erscheine. Der Streit erscheint akademisch und ist für die Praxis bedeutungslos.

Beispiel 1: Bei einem schweren Unfall auf der Autobahn fragt der zu Hilfe gerufene Notarzt Dr. N die umstehenden Passanten, wer die seltene Blutgruppe „A negativ“ habe. Nachdem O sich gemeldet hat, sich aber nicht willens zeigt, für eine sofortige Bluttransfusion zur Verfügung zu stehen, schlägt Dr. N den O bewusstlos und führt eine lebensrettende Bluttransfusion durch.

Beispiel 2: Der zu Unrecht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe (Justizirrtum) rechtskräftig verurteilte Mauritius schlägt einen Vollzugsbediensteten nieder, um seine Freiheit wiederzuerlangen.

Beispiel 3: Der Polizeipräsident P in der Großstadt B nimmt drei Tage vor dem Staatsbesuch des Präsidenten des Staates X zwei verdächtige Ausländer in Haft, da er von diesen ein Attentat befürchtet.

Es macht im Ergebnis keinen Unterschied, ob Dr. N, Mauritius und P die Berufung auf § 34 StGB wegen Eingreifens der „Angemessenheitsklausel“ (Satz 2) oder wegen des Nichtbestehens der „Interessenabwägungsklausel“ (Satz 1) versagt bleibt. Bei Dr. N scheitert der Rechtfertigungsgrund an der grundgesetzlich garantierten Privatautonomie des Opfers (Art. 1, 2 GG), bei Mauritius daran, dass er die strafprozessualen Möglichkeiten ausschöpfen muss (Wiederaufnahme) und bei P an der abschließenden Aufzählung der Haftgründe in § 112 StPO, durch welche der Gesetzgeber selbst die absolute Grenze für Inhaftierungen gezogen hat.