Rückwirkungsverbot

Aus Jura Base Camp
Version vom 10. Dezember 2016, 20:16 Uhr von Marc (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „Für den Bereich des Strafrechts begründet Art. 103 Abs. 2 GG, wörtlich übereinstimmend mit § 1 StGB, eine Verfassungsgarantie für eines der Hauptprinzipi…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Wechseln zu: Navigation, Suche

Für den Bereich des Strafrechts begründet Art. 103 Abs. 2 GG, wörtlich übereinstimmend mit § 1 StGB, eine Verfassungsgarantie für eines der Hauptprinzipien des Strafgesetzbuches: Kein Verbrechen ohne Gesetz (lat.: nullum crimen sine lege). Eine Tat kann danach nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit tatbestandlich-gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Durch seine verfassungsrechtliche Verankerung ist dieses sog. Rückwirkungsverbot damit der Disposition des Gesetzgebers entzogen worden. (Jus- tizgrundrechte) Das Strafrecht ermöglicht der Staatsgewalt, dem einzelnen Bürger weitestgehende Beschränkungen bis hin zur lebenslangen Freiheitsstrafe aufzuerlegen. Gegen einen Missbrauch dieser staatlichen Eingriffsmöglichkeiten müssen für die Bürger besondere Schutzvorkehrungen getroffen werden, um dem Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit zu genügen, wonach staatliche Willkür auszuschließen ist. Dieser Nullum-crimen-sine-lege-Grundsatz wird ergänzt durch den in § 2 Abs. 1-3 StGB niedergelegten Grundsatz: Keine Straffolge, ohne dass diese vorher gesetzlich bestimmt war, d.h., auch Art und Maß der Strafe müssen bereits bei der Tat gesetzlich bestimmt sein (lat.: nulla poena sine lege). Nach h.M. wird die Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. 2 GG auch auf dieses Prinzip bezogen, obgleich Art. 103 Abs. 2 GG dies nicht ausdrücklich normiert.


Beispiel 1: Der 25-jährige Max unterhält mit dem 28-jährigen Moritz homosexuelle Beziehungen im Jahre 50. Am 1.1.51 tritt ein Gesetz in Kraft, welches § 175 StGB dahin abändert, dass sexuelle Handlungen unter Männern bestraft werden, und zwar rückwirkend ab 1.1.50. Können Max und Moritz strafrechtlich verfolgt werden?

Beispiel 2: Durch eine Gesetzesänderung wird am 1.10.50 die Strafandrohung für Diebstahl rückwirkend auf den 1.1.50 verschärft. Der mehrfach einschlägig vorbestrafte Theo hat am 1.9.50 erneut einen Diebstahl begangen. Am 1.12.50 kommt es zum Strafprozess. Kann Theo nach der verschärften Strafandrohung verurteilt werden?

Abwandlung: Der Gesetzgeber mildert am 1.10.50 die für Diebstahl angedrohte Strafe.

Sie erkennen sofort, dass beide Gesetze verfassungswidrig sind, da zum einen für die männliche Homosexualität rückwirkend ein neuer Straftatbestand geschaffen wird, zum anderen für einen schon bestehenden Straftatbestand rückwirkend die Straffolge verschärft wird. Ist die neue Strafandrohung allerdings milder (Abwandlung), so muss der Richter diese zur Anwendung bringen (vgl. § 2 Abs. 3 StGB). Dieses allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot gilt nicht in folgenden Fällen: ● Art. 103 Abs. 2 GG findet keine Anwendung im Strafprozessrecht, auch wenn der Wortlaut dieses Artikels wortgleich in § 1 StGB übernommen wurde. Sobald das neue Verfahrensrecht angewendet werden kann, muss dies geschehen. Das gilt ebenso für Verfahrensvoraussetzungen wie die rückwirkende Beseitigung des Antragserfordernisses (vgl. z.B. § 247 StGB) oder die Verlängerung laufender Verfolgungsverjährungsfristen (vgl. § 78 ff. StGB). ● Art. 103 Abs. 2 GG gilt ferner nicht für Maßregeln der Besserung und Sicherung (vgl. § 2 Abs. 6 StGB), die rückwirkend normiert und zur Anwendung gebracht werden dürfen. Diese nicht unbedenkliche Durchbrechung des Rückwirkungsverbotes – sind doch nicht selten diese Maßregeln viel härter als die Strafen – lässt sich damit begründen, dass § 2 StGB nur von Strafen spricht, es sich bei jenen aber um Präventivmaßnahmen handelt. Dem Täter soll eben jeweils das „Beste und Modernste“ an Medizin und Erziehung zukommen, was der moderne Gesetzgeber zu bieten hat. ● Art. 103 Abs. 2 GG greift letztlich auch dann nicht ein, wenn sich die höchstrichterliche Rechtsprechung wandelt. Danach ist es dem Richter nicht verwehrt, eine Tat zu bestrafen, obwohl die zur Tatzeit praktizierte Rechtsprechung dies nicht getan hätte. Würde also z.B. die aus Praktikabilitätsgründen an eine bestimmte Blutalkoholkonzentration (zur Zeit BAK: 0,8 ‰) gebundene absolute Fahruntauglichkeit in § 316 StGB durch den Bundesgerichtshof (BGH) auf 0,4 ‰ reduziert, so wird das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung nicht geschützt. Nur das Gesetz, nicht der Richterspruch, ist maßgebend dafür, was verboten ist.