Beispiel: Max und Jupp geraten in einer Disco über die schöne Helena in einen Streit. Max beendet die verbale Auseinandersetzung, indem er Jupp eine Ohrfeige versetzt. Dem zum Ausgang strebenden Max setzt der wutentbrannte Jupp nach, ergreift einen Barhocker und schlägt selbigen dem Max von hinten über den Kopf. Die entstandene Platzwunde muss von einem Arzt genäht werden. Gemäß dessen Rechnung muss Max hierfür 500 € zahlen.
Jeder Rechtsfall enthält eine Fragestellung, die auf Bestehen oder Nichtbestehen einer Rechtsfolge gerichtet ist. Die Fragestellung lautet, anders als im Strafrecht, nicht: „Wie hat sich Jupp strafbar gemacht?“, sondern: „Kann Max von Jupp 500 € Ersatz für die bezahlte Arztrechnung verlangen?“
Die Rechtsnorm, welche die Rechtsfolge abstrakt enthält, welche die zivilrechtliche Aufgabenstellung konkret verlangt, ist als ➞ Antwortnorm zu bezeichnen. Wichtigste Antwortnormen auf die Frage, ob ein Bürger (wer) von einem anderen Bürger (von wem) im Privatrecht etwas (was) verlangen kann, sind die ➞ Anspruchsgrundlagen (woraus) des BGB.
Daraus folgt die bekannteste aller juristischen Studentenfragen im BGB-Fall: Wer-will-was-von wem-woraus-warum?
Eine solche Anspruchsgrundlage ist § 823 Abs. 1 BGB.
- 823 Abs. 1 BGB ist eine Norm, nach deren ➞ Konditionalprogramm der eine Bürger von dem anderen Bürger Schadenersatz (Rechtsfolge/Dann-Teil) verlangen kann, wenn die beschriebenen gesetzlichen Tatbestandsmerkmale (Voraussetzungen/Wenn-Teil) vorliegen. Man hat also das Recht (den Anspruch), ein Tun (die Schadenersatzzahlung) zu verlangen, wenn die gesetzlichen Bausteine gegeben sind.
- Anspruchsberechtigter ist Max (wer)
- Anspruchsbegehren ist Ersatz der Arztkosten in Höhe von 500 € (was)
- Anspruchsgegner ist Jupp (von wem)
- Anspruchsgrundlage ist § 823 Abs. 1 BGB (woraus)
Max kann also von Jupp 500 € verlangen, wenn die Prüfung des Falles ergibt, dass sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB dadurch erfüllt sind, dass der eingangs geschilderte Lebensausschnitt „Der Streit um die schöne Helena“ korrespondierende Sachver-haltselemente aufweist.
Die Deckung vom Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB und vom konkreten Sachverhalt muss im Gutachten hergestellt werden.
Am Anfang aller Betrachtungen sollten über jeden Fall immer acht Blicke schweifen.
- Erster Blick:
Was sagt der Sachverhalt? Um was geht’s?
- Zweiter Blick:
Was wollen die von mir? Aufgabe! Welche Rechtsfolge soll eintreten? Leistung, Schadenersatz, Herausgabe? Blick auf das Dann!
- Dritter Blick:
Gibt es eine Antwort für die gewünschte Rechtsfolge? Blick auf die Anspruchsgrundlage! Blick auf die Antwortnorm!
- Vierter Blick:
Auf die Tatbestandsseite mit ihren Tatbestandsmerkmalen!
- Fünfter Blick:
Auf die Auslegung jedes Merkmals!
- Sechster Blick.
Auf die Definition jedes Merkmals!
- Siebter Blick:
Auf die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Sachverhalt und Tatbestandsseite!
- Achter Blick:
Auf die Schlussfolgerung!
Das „Reiz“-Schema Gutachten nimmt seinen Lauf. Es findet immer eine Lösung. Hier wird Ihr träges Wissen zu lebendigem Wissen „gereizt“!
- Takt: Zur Hypothese
Es wird bekanntlich ein bestimmtes, die Fragestellung der Aufgabe beantwortendes Ergebnis als möglich hingestellt (hypothetisches Ergebnis „könnte“). Die Fallfrage geht dahin, ob Max von Jupp 500 € als Schadenersatz verlangen kann.
Wer? = Der Anspruchssteller! Max
Was? = Das Anspruchsbegehren! 500 € Schadenersatz
Von wem? = Der Anspruchsgegner! Jupp
Woraus? = Die Anspruchsgrundlage! § 823 Abs. 1 BGB
Sämtliche „vier W“ müssen in der Hypothese des Gutachtens vorhanden sein. Sie warten im vierten Denkschritt des Gutachtens – im Ergebnis – auf ihre Antwort (Max kann von Jupp verlangen … – oder er kann nicht verlangen). Der vierte Denkschritt (Ergebnis) steht immer in unlöslicher Korrespondenz zu dem ersten Denkschritt (Hypothese) und muss den ersten Denkschritt positiv oder negativ beantworten. Dementsprechend lautet der erste Denkschritt:
„Max könnte von Jupp die Zahlung von 500 € Schadenersatz gem. § 823 Abs. 1 BGB verlangen.“
- Takt: Zum Untersuchungsprogramm
Es werden die Voraussetzungen (die Summe der Tatbestandsmerkmale) gesucht, bei deren Vorliegen man zu dem unter der Hypothese vorgeschlagenen Ergebnis kommt (Prämissen suchen!).
- Zunächst braucht man eine Handlung des Schädigers (wer … verletzt).
- Dann benötigt man eine Rechtsgutverletzung (Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder ein sonstiges Recht).
- ∙ Zwischen der Handlung und der Verletzung muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Die Juristen sprechen insoweit von der Kausalität der Handlung für die Rechtsgutverletzung (verletzungsausfüllende Kausalität). (➞ Kausalität im BGB)
- Die Handlung muss widerrechtlich gewesen sein, d.h. rechtswidrig. (➞ Rechtswidrigkeit)
- Die Handlung muss vom Schädiger vorsätzlich oder fahrlässig vorgenommen worden sein, d.h. schuldhaft. (➞ Schuldformen)
- Da der Schadenersatz eine eingetretene Vermögenseinbuße ausgleichen will, kommt § 823 Abs. 1 BGB dann nicht in Betracht, wenn überhaupt keine messbare Vermögenseinbuße, das ist kurz gesagt ein „Schaden“, eingetreten ist, die ausgeglichen werden muss. Das Bestehen eines Schadens ist also eine weitere Voraussetzung des § 823 Abs. 1 BGB. Dieses Tatbestandsmerkmal „Schaden“ ist grammatikalisch in den Rechtsfolgeteil (das Dann) gerutscht. § 823 Abs. 1 BGB spricht darin davon, dass der Schädiger den aus der Verletzung entstandenen „Schaden“ ersetzen muss. Man kann sich also nicht immer darauf verlassen, dass der Konditionalteil einer Anspruchsgrundlage sämtliche Bausteine umfasst. Diese können auch manchmal im Rechtsfolgeteil oder gar in anderen Normen oder allein in der Logik zu suchen sein.
- Auch zwischen der Handlung und dem eingetretenen Schaden muss eine Kausalität bestehen (schadensausfüllende Kausalität).
Im Beispielsfall könnte man fortfahren:
„Das setzt voraus, dass Jupp den Max widerrechtlich und vorsätzlich am Körper verletzt hat, wodurch Max ein Schaden entstanden sein muss.“
Man beschränkt sich insoweit auf die für den Fall notwendigen Tatbestandsmerkmale, die alternativ, nicht aber kumulativ, vorliegen müssen (Leben oder Körper oder Gesundheit oder Eigentum oder Freiheit).
- Takt: Zur Subsumtion
Es werden die aufgezeigten Voraussetzungen des Untersuchungsprogramms geprüft.
∙ Erstes kleines Teilgutachten
„Dann müsste zunächst durch eine Handlung des Jupp eine Verletzung am Körper des Max verursacht worden sein.“
Grundsätzlich würde man hier die Merkmale „Handlung, Körperverletzung und Kausalität“ des eleganteren Stils wegen sowie angesichts der Überlegung, dass man Selbstverständlichkeiten nicht auswalzt, zusammenfassen. Hier müsste schlicht festgestellt werden: „Jupp hat durch den Schlag mit dem Barhocker Max körperlich verletzt“ – Basta!
- Zweites kleines Teilgutachten
„Darüber hinaus müsste dem Max aufgrund dieser Verletzung durch Jupp ein Schaden entstanden sein. Schaden ist jede Verminderung des Vermögens. Max musste für die Behandlungskosten beim Arzt 500 € aufwenden, um die sein Vermögen jetzt vermindert ist. Also ist Max ein Schaden entstanden.“
- Drittes kleines Teilgutachten
„Für diese Vermögensminderung müsste die Verletzung durch Jupp ursächlich gewesen sein. Ursächlich ist die Verletzung dann, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Vermögenseinbuße ebenfalls entfiele. Ohne die Verletzungshandlung hätte Max keine Veranlassung gehabt, den Arzt aufzusuchen, so dass auch keine Behandlungskosten in Höhe von 500 € entstanden wären. Also war diese Verletzung für den Schaden auch kausal.“
- Viertes kleines Teilgutachten
„Schließlich müsste Jupp widerrechtlich gehandelt haben. Widerrechtlich ist der Eingriff in den Rechtskreis eines anderen dann, wenn er von der Rechtsordnung nicht gestattet ist („wider das Recht“), insbesondere dann, wenn dem Handelnden kein Rechtfertigungsgrund zur Seite steht. Als Rechtfertigungsgrund für den Schlag des Jupp käme Notwehr gem. § 227 BGB in Betracht (Hypothese eines neuen Teilgutachtens). Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden (fast wortgleich mit § 32 StGB). Dann müsste zunächst ein Angriff des Max auf Jupp vorgelegen haben. Angriff ist jede Beeinträchtigung rechtlich geschützter Interessen durch einen Menschen (h.M.). Max hat Jupp geohrfeigt, mithin seine gem. §§ 185, 223 StGB geschützte Ehre und körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt. Also hat Max den Jupp angegriffen. Weiterhin müsste dieser Angriff gegenwärtig gewesen sein. Gegenwärtig ist ein Angriff, der unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder fortdauert (h.M.). Nachdem Max dem Jupp die Ohrfeige versetzt hatte, strebte er zum Ausgang, ohne Anstalten für einen weiteren Schlag zu treffen. Mithin war der Angriff beendet und nicht mehr gegenwärtig. Also handelte Jupp nicht in Notwehr gem. § 227 BGB. Da ein anderer Rechtfertigungsgrund nicht ersichtlich ist, handelte Jupp insgesamt widerrechtlich.“
- Fünftes kleines Teilgutachten
„Letztlich müsste Jupp vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben. Vorsatz bedeutet die bewusste und gewollte Herbeiführung des Erfolges (h.M.). Jupp wollte Max mit dem Barhocker verletzen und wusste auch, dass dies zu einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und der Ehre seines Gegners führen würde. Also handelte Jupp vorsätzlich.“
- Takt: Zum Ergebnis
Abschließend folgt das Ergebnis der Prüfung, also die konkrete Beantwortung der im ersten Denkschritt (Hypothese) aufgeworfenen Frage nach der Rechtsfolge.
„Also kann Max von Jupp gem. § 823 Abs. 1 BGB die Zahlung von 500 € als Schadenersatz verlangen.“