Gibt es ein Geheimnis der Juristerei?“ „Nein! Es gibt nur Studenten, die sich nicht um das Erlernen des Gutachtens bemühen.

Was steckt hinter dem berühmt-berüchtigten ‚Juristischen Denken und Arbeiten‘? – Das Gutachten! Ich schreibe jetzt einen der wichtigsten Beiträge für Sie. Urteilen Sie selbst – aber erst am Ende des Beitrages.

Viele Studenten seufzen nach den ersten Vorlesungen vernehmlich: „Es muss doch aber etwas alle Gesetze und Fälle Verbindendes, ein gemeinsames Band – einen Soundtrack geben.“ Dieses Gemeinsame gibt es in der Tat! Es ist das „Juristische Denken und Arbeiten“.

Unter den Ärzten der Antike gab es einst die Gruppe der sogenannten „Methodiker“ – sie waren, wie der Name schon sagt, höchst systematische Geister. Sie wollten Ordnung in das Chaos der Medizin bringen. Wozu die unübersehbaren vielen Heilverfahren, Heilmittel und Heilkräuter? Die „Methodiker“ waren der Ansicht, dass man alle Krankheiten mit ein und derselben Methode behandeln könne. GenialeIdee! Doch leider verschwanden diese „Methodiker“ vollständig von der medizinischen Bildfläche, ohne ihre wunderbare Einheitsmethode jemals gefunden zu haben.

Auch in der Philosophie hörte man bereits in der Antike die Meinung, dass Chaos der philosophischen Probleme ließe sich auf ein und dieselbe Weise glücklich ordnen. Doch im Unterschied zu den „Methodikern“ in der Medizin sind die philosophischen „Methodiker“ keinesfalls ausgestorben. Vielmehr wird bis heute immer wieder verkündet, man habe jetzt die philosophische Methode entdeckt, von der überall Fortschritte zu erwarten seien. Und wo die wunderbare Einheitsmethode dann mal nicht passt, erklärt man das entsprechende Thema kurzerhand für unsinnig oder nicht existent.

Die Wahrheit ist aber, dass man in der Philosophie ebenso wie in der Medizin mit einer Vielzahl von Verfahren arbeiten muss. Ganz anders in der Juristerei! Wir haben Ordnung in das Chaos des Aufeinanderprallens von Leben und Gesetz gebracht. Die Juristen können alle „Fälle“ mit ein und derselben Methode behandeln. Geniale Idee! Das Bestaunenswerte, um das uns alle anderen beneiden, ist unsere Methode, unsere Einheitsmethode des Gutachtens!

Hinter dem Terminus „Juristisches Denken und Arbeiten“ verbirgt sich etwas ganz Großartiges, nämlich die Methodik der Fallbearbeitung mit ihrem Gutachten und ihrer Subsumtion. Juristisches Denken und Arbeiten ist eigentlich nichts anderes als eine durch Übung erarbeitete Rechtsanwendungskunst. Ohne sie geht nichts in der Juristerei. Diese Kunst wird Ihnen als das Alleinstellungsmerkmal unserer Zunft zur Selbstverständlichkeit werden! Es ist ein Betriebsgeheimnis der Juristen: das Zurdeckungbringen von Sachverhalt und Gesetz in einem Gutachten.

Die Fallherangehensweise erfolgt immer nach dem gleichen Gutachten-Programm:

Vielleicht haben Sie seit den ersten Wochen Ihres Studiums bereits erkannt, wie wichtig Rechtsanwendung in einem Gutachten ist. Ohne das Bedingungsgefüge:  ● Sachverhalt ● Gesetz ● Konditionalprogramm ● gesetzliche Tatbestandsmerkmale ● Gutachten ● Auslegung ● DefinitionSubsumtion ● Schlussfolgerung läuft in der Juristerei nichts zusammen. Das eliminierte Tatbestandsmerkmal wird im Gutachten erst durch die auslegende Interpretation und nachfolgende Definition für die Subsumtion „scharf“. Ohne die die Tatbestandsmerkmale für die Definitionen aufschließenden Auslegungen ist der Subsumtionsvorgang im Gutachten ein reines Glücksspiel und damit für einen Juristen unmöglich, da es zu ungleichen Beurteilungen gleicher Sachverhalte führen kann. Sie können dieses ewige Wechselspiel von Sachverhalt und Gesetz deshalb bald durchschauen – und ich kann es Ihnen jetzt Schritt vor Schritt zu rekonstruieren beginnen, weil es nach Regeln und Methoden abläuft, die festliegen.

  1. Zunächst müssen Sie jedes einzelne Tatbestandsmerkmal aus dem Gesetz herausstanzen, es eliminieren,
  2. es dann bestimmen, auslegen, interpretieren,
  3. es begrifflich abgrenzen, definieren,
  4. dann den Sachverhalt unter dieses „entfaltete“ Tatbestandsmerkmal subsumieren,
  5. um am Ende die Schlussfolgerung (conclusio) zu ziehen, konkludieren.

Eliminieren ● Interpretieren ● Definieren ● Subsumieren ● Konkludieren! So werden Tatbestandsmerkmale „abgearbeitet“ und nur so wird „Juristisches Denken und Arbeiten“ betrieben, egal von welchem Juristen in welcher Profession auch immer. Die Methode der gutachtlichen Rechtsanwendung ist immer gleich! Niemals wird in einer juristischen Klausuren Wissen nur „abgeladen“, sondern Wissen wird immer „angewendet“. Und das geschieht mit der Methode des Gutachtens.

Bei keiner juristisch-wissenschaftlichen Klausur oder Hausarbeit ist es möglich, aus der Aufgabenstellung (sog. Bearbeitervermerk) heraus sofort den endgültigen Gedankengang zu erörtern. Um eine solche Leistung nun gut zu bestehen, sind juristische Kenntnisse zwar notwendig, aber nicht hinreichend.

Dieses „Juristische Denken und Arbeiten“ hat tragende Bedeutung für Ihr gesamtes Juristenleben! In der Juristerei müssen Sie, wie in der Architektur auch, zwischen tragenden und lastenden Teilen unterscheiden: Die methodische Rechtsanwendung mit ihrem Gutachten und ihrer Subsumtion gehört  zu den tragenden Teilen! Man erlernt allerdings die Methodik der Fallanwendung nicht wie eine Sprache und die Grammatik so nebenbei, sondern nur durch langandauernde Übung.

Für Sie wird sich die Fähigkeit des „Juristischen Denkens und Arbeitens“ in der Bearbeitung Ihrer Klausuren manifestieren. Klausurenmethode, Methodik der Fallbearbeitung, Subsumtionsmethode, Technik der Fallbearbeitung, Gutachtenmethode – ein wildes Durcheinander an Termini. Der beste Begriff ist sicherlich der der Klausurentechnik.  Technik (téchne) wird hier  in der griechischen Bedeutung von Kunstfertigkeit verstanden. Er ist weit und umfasst alles, was wir brauchen, nämlich sowohl die Rahmenbedingungen, wo und wann die Klausur mit welchen Hilfsmitteln in welcher Zeitvorgabe, in welcher äußeren Form und in welcher Sprache geschrieben wird, als auch die Technik der Fallbearbeitung, die nun ihrerseits die Gutachtentechnik, diese wiederum den Arbeitsschritt der Subsumtionstechnik mit ihrer Auslegungs- und Definitionskunst umschließt.

Die Hochschulen übersehen häufig die „Allgegenwart“ dieser Methodik und versäumen oft sträflich, ihr die gebührende Stellung gleich im Beginn des Jurastudiums einzuräumen. Sie versteigen sich in die „Rechtswissenschaft“ unter Vernachlässigung des „Handwerklichen“. Gesetze überleben sich, unterliegen dem Prozess des Sterbens und Geborenwerdens. Die Sternbilder juristischer Methodik im Umgang mit dem Fall und dem Gesetz aber – die Klausurentechnik – schimmern in ewiger Unvergänglichkeit über den Friedhöfen der Paragraphen, Gesetze und Entscheidungen. Wer diese Methoden im studentischen Griff hat, meistert das „Juristische Denken und Arbeiten“.

Es ist Ihnen sicherlich schon deutlich geworden, dass die Juristen alle „Fälle“ mit ein und derselben Methode behandeln können, der Einheitsmethode des Gutachtens! Das Gutachten ist das wichtigste gemeinsame Gen in der kollektiven DNA aller Juristen. Damit haben Juristen Ordnung in das Chaos des Aufeinanderprallens von „lebendigem“ Leben und „totem“ Gesetz in der Fallbearbeitung gebracht. Das Bestaunenswerte, um das uns andere Wissenschaften ausnahmsweise mal beneiden, ist diese Methode zur Lösung von Fällen: die Einheitsmethode des Gutachtens! Überall, wo eine juristische Wahrheit gesucht wird, ist es das Gutachten, das da mitsucht.

Wer diese Kunstfertigkeit der Rechtsanwendung – für Sie Klausurentechnik – nicht beherrscht, hat keine Aussicht auf juristischen Erfolg! Das Gutachten wird geformt im Geist einer logischen Artistik. Die geheimnisvolle Gutachtentechnik ist die Summe der Folgerungen und Denktätigkeiten, welche dem „Juristischen Denken und Arbeiten“ seine Richtigkeit sichert. Es ist das Handwerk, nach dem die Juristen mit der Unzahl von Gesetzen und Fällen fertig werden. Und: Es ist eine wissenschaftliche Methode, da sie vom Allgemeinen auf das Besondere herabgeht, da sie jeden vorliegenden Fall durch Anwendung derselben Regelmethode entscheidet und daher durch Anwendung ein- und derselben Regel Tausende ähnlicher Fälle entscheiden kann. Diese Methode durchzieht wie ein goldener Faden die Juristerei. Sie ist für Sie der treue Begleiter bis zum Examen und behauptet sich immer wieder aufs Neue gegen die Vielheit der Gesetze und Fälle. Sie verleiht das gleichmäßige und damit gerechte Vollziehen und die logische Richtung Ihrer Denkbewegungen und Arbeitsschritte. Das Gutachten liefert sowohl das Präzisionsinstrument zur „denkenden“ Fallbearbeitung als auch die Präsentationsform der Darstellung. Es verbürgt damit insgesamt den Erfolg Ihrer  Klausuren und Hausarbeiten.

Diese juristische Einheitsmethodik wird Ihre Falllösung immer richtig steuern und Sie so zu vertretbaren Lösungen führen. Diese Methodik setzt anstelle eines ungeschulten, planlosen Verfahrens, einer ungerechten, weil ungleichmäßigen juristischen Behandlung das rationelle, rationale und ewig gültige Gutachten. Vom methodisch richtigen sezierenden Erarbeiten der Gesetze, vom methodisch richtig geschulten gutachtlichen Verarbeiten und vom sprachlichen Ausdruck des gutachtlich Präsentierten hängt das Ergebnis Ihrer Klausuren ab. Die Prädikatsnote ist das Produkt aus Gesetz, Sachverhalt, Ihrem erlernten juristischen Wissen und Ihrem in allen gutachtlichen Denk- und Arbeitsvariationen „methodisch-geschulten“ hellen Köpfchen!

  • Im juristischen Gutachten zu arbeiten – das heißt, juristisch zu denken und zu  arbeiten!
  • Das juristische Gutachten zu beherrschen – das heißt, das juristische Denken und Arbeiten zu beherrschen!
  • Das juristische Gutachten zu verbessern – das heißt folglich, sein juristisches Denken und Arbeiten zu verbessern!

Der Kern jeder juristischen Arbeit ist das Gutachten! Der Kampf um Qualität ist in der Juristerei immer ein Kampf um das Gutachten. Das Gutachten ist das Immunsystem, um Fehler bei der Fallbearbeitung abzuwehren.


Los geht’s! Ab jetzt gilt: „Gut achten auf das Gutachten“

Ich wiederhole mich gern: Die Juristerei ist auch ein Handwerk! Ein Handwerk erlernt man durch Übung. Und Übung erlernt man durch Üben. Sie können so viele Lehr- und Lernprogramme für juristisches Wissen haben, wie Sie wollen. Keines entlastet Sie vom Erlernen, Verstehen und handwerklichen Anwenden des Gutachtens.

Also: In der Juristerei hat man es immer mit zwei gegeneinander in Stellung gebrachten Denkgegenständen und einer Denkoperation zu tun, nämlich:

  •     Denkgegenstand 1: das Gesetz, eingebunden in die Rechtsordnung
  •    Denkgegenstand 2: derSachverhalt, eingebunden in das Alltagsleben.

Bei dieser Frontstellung von Denkgegenstand „Gesetz“ und Denkgegenstand „Sachverhalt bleibt es bei den Juristen aber nicht stehen. Das wichtigste Betätigungsfeld für einen Juristen ist das Auflösen dieser Frontstellung, die versöhnende Passung der zwei Denkgegenstände „Gesetz“ und „Sachverhalt“ durch eine

  •      Denkoperation: die Subsumtion, die in das Gutachten eingebettet ist.

Subsumtion ist das Fremdwort für das operative Zurdeckungbringen beider Denkgegenstände. Oder: die Unterordnung eines Sachverhaltes unter eine Rechtsnorm. Jura braucht erstens das Gesetz, zweitens den Sachverhalt und drittens das Gutachten mit seinen Auslegungen, Definitionen und seinem „Deckungsverfahren“ der Subsumtion!

Der Sachverhaltist eine meist recht spannende Geschichte. Es ist ein Lebensausschnitt, bestehend aus Tatsachen, der einer juristischen Klärung bedarf. Ohne „Sachverhalt“, ohne „Fall“, gäbe es kein Recht! Der Fall war und ist der entscheidende Auslöser für Gesetz und Rechtsanwendung in Studium und Praxis. Die Fälle stammen aus dem Leben der Menschen, die Gesetze aus der Hand des Gesetzgebers. Da die Kombinationskunst des Lebens unerschöpflich ist, ist auch die Kombinationskunst mit den Gesetzen und folglich sind auch die Operationen der Rechtsanwendung unerschöpflich. Was braucht ein Sachverhalt? – Ein Sachverhalt braucht eine Geschichte – in Klausuren unstreitig, in der Praxis meist streitig –, im Strafrecht im Regelfall mindestens eine Person, die ein Rechtsgut eines anderen oder der Allgemeinheit verletzt hat und im Zivilrecht mindestens zwei Personen, die sich um ein Gut streiten, und jeweils ein Gesetz, mit dem die Zwei entweder den Streit um das Gut lösen können (BGB) oder das die Verletzung des Rechtsgutes mit Strafe bedroht und den Staatsanwalt auf den Plan ruft (StGB). Sie müssen wissen: Sämtliche juristischen Fälle spielen sich ab jetzt für Sie immer vor dem gleichen Hintergrund ab. Der Gutachtenstil und die Subsumtionstechnik mit ihren Helfern der Auslegungs- und Definitionslehre bilden die weiße Folie, vor der die Schattenspieler A, B und C Ihrer juristischen Fälle ihre strafrechtlichen Tragödien oder ihre privatrechtlichen, mehr oder weniger querulatorischen Rechtsschauspiele für Sie aufführen. Ihre Präzisionsinstrumente bestehen ab jetzt immer mehr ihre zivilrechtlichen und strafrechtlichen Bewährungen!


Beispiel: Max verprügelt Moritz aus Eifersucht und schlägt ihm dabei das Nasenbein ein.

  •    Dieses Beispiel ist ein Lebensausschnitt zweier Menschen, Max und Moritz. Tatsachen sind hier „Verprügeln“ und „Einschlagen“.
  •    Dieser Ausschnitt wird zum juristischen Sachverhalt, wenn er einer juristischen Klärung (Lösung) bedarf.
  •    Er mutiert zum strafrechtlichen Sachverhalt, wenn er einer strafrechtlichen Lösung bedarf. Wenn man etwa fragt: „Hat Max sich strafbar gemacht?“
  •    Er mutiert zum zivilrechtlichen Sachverhalt, wenn er einer bürgerlich-rechtlichen Klärung bedarf. Wenn man etwa fragt: „Kann Moritz von Max Schadenersatz verlangen?“
  • Dieser juristische Sachverhalt wechselt seine Bezeichnung erneut, wenn er von einem Studenten bearbeitet werden muss. Das Chamäleon heißt jetzt schlicht: „Der FALL“!


Alle Ratschläge für diese juristische „Hebammenkunst“ der Rechtsanwendung hören sich in der abstrakten Beschreibung in Lehrbüchern und Vorlesungen immer so himmlisch einfach an, werden aber höllisch kompliziert, wenn der Student versucht, „Juristisches Denken und Arbeiten“ praktisch zu realisieren. Den dozentischen Fingerzeig „Sie müssen das Gutachten beherrschen lernen!“ in konkretes studentisches Handeln umzusetzen, ist oft und gerade am Anfang ein schwieriges und umfangreiches Programm. Das Gesetz selbst bietet dazu keine und die Dozenten in ihrem Stoffdruck meist keine allzu große Hilfe an. Dabei bietet sogar der Alltag eine Fülle lehrhafter Beispiele.

Versuchen wir es einmal mit folgenden vier Holland-Wochenendplanungen der Freundinnen Sabine, Susanne, Sandra und Steffi.


Sabine:

„Am Wochenende könnte ich nach Holland ans Meer fahren.

Das setzt voraus, dass ich Geld habe, dass ich Zeit habe und dass mein Freund mitfährt.

Mein Freund hat Lust, ich habe Zeit, da meine Klausuren gerade vorüber sind,
aber ich habe kein Geld mehr.

Also kann ich am Wochenende nicht nach Holland ans Meer fahren.“


Susanne:

„Am Wochenende fahre ich nach Holland ans Meer.

Denn mein Freund hat Lust, ich habe Geld und Zeit.“


Sandra:

„Am Wochenende fahre ich nach Holland ans Meer. Basta!“


Steffi:

„Am Wochenende fahre ich nach Holland.“

Freund: „Ich würde ja mitfahren, aber hast du überhaupt Zeit?“

Steffi: „Ja, meine Klausuren sind gerade geschrieben.“

Freund: „Hast du denn auch Geld für eine solche Fahrt?“

Steffi: „Verdammt, nein, ich habe mir ja gerade den neuen Tennisschläger gekauft.“

Freund: „Dann kannst du auch nicht am Wochenende nach Holland fahren!“

Steffi: „Oh, das ist schade!“

Alle Vier hatten ein Problem: Sie wollten am Wochenende nach Holland. Dieses Problem musste gelöst werden. Eine Problemlösung hat zwei Elemente:

  •   Sie enthält eine Begründung (Lust/Geld/ Zeit)
  •   Sie führt zu einem Ergebnis (ich fahre / ich fahre nicht)

Zur Darstellung dieser Problemlösung gibt es drei Möglichkeiten


Erstens: Der Gutachtenstil

Das Gutachten folgt prinzipiell der Denkform, in der die Lösung erarbeitet wird, d.h. man geht von der Frage(Problem-)stellung aus („Kann ich am Wochenende nach Holland fahren?“) und entwickelt den Gedankengang zum Ergebnis hin. Der Gutachtentechnik liegt eine Funktionsweise juristischer Schlussfolgerungen zugrunde. Es handelt sich

  • um die Anwendung allgemeiner Sollens-Sätze („Gesetze und Normen“)
  • auf konkrete Lebensausschnitte („Fälle“).

Nehmen wir zwei Beispiele:

Beispiel 1: Muss Jupp bei einem Autounfall Hilfe leisten?

Beispiel 2: Muss Jupp bei Ehestreitereien Hilfe leisten?

Der allgemeine Sollens-Satz steht im StGB und lautet: „Du sollst bei Unglücksfall Hilfe leisten.“ (Siehe § 323 c StGB)

Um aus diesem allgemeinen Sollens-Satz auf einen konkreten Fall (Beispiel 1: „Autocrash“, Beispiel 2: „Ehestreit“) bezogene Folgerungen zu gewinnen („Muss Jupp Hilfe leisten?“), hat man sich eines logischen Schlusses bedient, den man seit Aristoteles „Syllogismus“ nennt, weniger klassisch: Deckungsarbeit. Es ist ein handwerkliches (methodisches) Verfahren, mit dem man auf überzeugende Weise Antworten zu allen moralischen und rechtlichen Fragen findet.


Beispiel 1:

Bei Unglücksfällen sollst (musst) Du Hilfe leisten. (Sollens-Satz)

Jupp erlebt einen Autounfall mit. (Lebensausschnitt)

Ein Autounfall ist ein Unglücksfall. (Deckungsarbeit ohne Definition)

Also soll (muss) Jupp Hilfe leisten. (Schlussfolgerung)


Beispiel 2:

Bei Unglücksfällen sollst (musst) Du Hilfe leisten. (Sollens-Satz)

Jupp erlebt einen Ehestreit mit. (Lebensausschnitt)

Ein Ehestreit ist kein Unglücksfall. (Deckungsarbeit ohne Definition)

Also soll (muss) Jupp keine Hilfe leisten. (Schlussfolgerung)


Die gewonnenen Aussagen sind zwar trivial, das Verfahren dagegen genial! Nach diesem Verfahren läuft der größte Teil juristischer Arbeit ab.

Zurück nach „Holland“! Da zunächst nur die Fragestellung bekannt ist („Kann ich nach Holland fahren?“) und das Ergebnis noch gesucht wird („Ich fahre/ich fahre nicht“), verläuft der Gedankengang so, dass von der Fragestellung ausgegangen und Schritt für Schritt zum Ergebnis hin gefolgert wird. Würde man aufgefordert, dies schriftlich darzustellen, wäre der Leser sehr daran interessiert, die Gedankenfolge so dargelegt zu bekommen, wie sie sich im Kopf entwickelt hat. Der Leser ist bei dem entwickelnden Denken des gutachtlich arbeitenden Studenten gleichsam „live“ dabei. Dadurch kann er den Gedankengang des „Gutachters“ genau nachvollziehen. Das nennt man „ein Gutachten anfertigen“. Diesem gedanklichen Vorgehen entsprechen gewisse Eigenarten der sprachlichen Formulierung („es könnte“ – „also“), weshalb man vom „Gutachtenstil“ spricht.

Das Denken in der Form des Gutachtenstils vollzieht sich in folgenden vier Denkschritten (wir nennen das mal „Vier-Takt-Motor“):


1.    Hypothese

Gutachtliche Zielformulierung: „Es könnte“

Es wird ein bestimmtes, die Fragestellung beantwortendes Ergebnis als möglich hingestellt (hypothetisches Ergebnis).

Am Wochenende könnte ich nach Holland fahren!“

2.   Aufstellung eines Untersuchungsprogramms

Gutachtliche Strukturierung: „Das setzt voraus“

Es werden nunmehr die Voraussetzungen (sämtliche!) gesucht, bei deren Vorliegen man zu dem vorgeschlagenen Ergebnis (Holland) kommt.

Das setzt voraus, dass mein Freund Lust hat und ich Geld und Zeit habe.“


3.    Subsumtion

Gutachtliche Inszenierung: „Hat mein Freund Lust? Habe ich Geld und Zeit?“

In Ausführung des bekannt gegebenen Untersuchungsprogramms wird jetzt geprüft, ob die Voraussetzungen auch tatsächlich vorliegen. Das Auge wandert hin und her zwischen den einzelnen Voraussetzungen des Untersuchungsprogramms und den tatsächlichen Gegebenheiten. Die Realität spiegelt sich in den Prämissen:

  •     „Des Freundes Lust: ja/nein
  •     „Meine Zeit: ja/nein
  •     „Mein Geld: ja/nein


Gelingt die spiegelnde Entsprechung, gelingt die Subsumtion (positive Subsumtion). Scheitert die Entsprechung, scheitert die Subsumtion (negative Subsumtion).


4.   Ergebnis

Gutachtliche Zielkontrolle: „Also ja oder nein“.

Der letzte Schritt besteht darin, das Ergebnis der Prüfung, der Subsumtion, festzustellen. Durch das Ergebnis wird die Ausgangshypothese, die Fragestellung, bestätigt (wissenschaftlich: verifiziert) oder widerlegt (wissenschaftlich: falsifiziert).

Also kann ich nach Holland fahren“ (alle Voraussetzungen passen), oder:

Also kann ich nicht nach Holland fahren“ (mindestens eine Voraussetzung passt nicht).

Für den Gutachtenstil ist symptomatisch:

  •   Die Hypothese wird mit Wendungen vorgestellt wie: könnte nach Holland fahren, möglicherweise fahre ich nach Holland, kommt eine Hollandfahrt in Betracht, ist zu prüfen, ob ich nach Holland fahre, fraglich ist, ob ich nach Holland fahren kann.


Das folgt daraus, dass man es bis zum vierten Denkschritt nur mit einem hypothetischen Ergebnis zu tun hat, ein Umstand, der bei der Formulierung des Gutachtens sprachlich deutlich gemacht werden muss.

  •   Das Ergebnis wird eingeleitet durch: also, somit, folglich, daraus folgt.
    Es ist der Schlussstein des Gutachtens.

Grafische Darstellung des juristischen Codes des Gutachtenstils




Zweitens: Der Urteilsstil
 
Im Urteilsstil wird ein feststehendes Ergebnis begründet. Das Ergebnis der Überlegungen wird vorangestellt und die Begründung nachgeliefert, aus der dann hervorgeht, warum das Ergebnis „Ich fahre“ – oder – „Ich fahre nicht“ richtig ist. Beim Urteil fällt die für das Gutachten typische Hypothese (Fragestellung) weg. Stattdessen   wird sogleich das Ergebnis an die Spitze gestellt. Deshalb reichen beim Urteil drei Denkschritte aus (Drei-Takt-Motor):
 
·  Mitteilung des Ergebnisses:
Ich fahre am Wochenende nach Holland.“
·  Benennung der Voraussetzungen, aus denen das Ergebnis hergeleitet wird:
Denn mein Freund hat Lust, ich habe Zeit und Geld.“
 
·  Subsumtion unter die Voraussetzungen:
ü    Zur Lust meines Freundes:
       „Denn mein Freund möchte gerne ans Meer und mit mir zusammen sein.“
ü    Zum leidigen Geld:
       „Denn ich habe von meinem Monatswechsel noch 300 Euro übrig.“
ü    Zur fraglichen Zeit:
       „Denn ich habe die letzte Klausur gerade hinter mich gebracht.“
 
Für den Urteilsstil ist symptomatisch, dass die Sätze mit „denn“ verbunden sind,
d e n n  es wird ja nur begründet.
 

Drittens: Der Feststellungsstil
 
Eine Feststellung wird lediglich getroffen („Basta“), aber nicht begründet. „Ich fahre am Wochenende nach Holland“ – Fertig! Um beispielsweise festzustellen, dass ein Buch eine „bewegliche Sache“ im Sinne des Diebstahlstatbestandes des § 242 StGB ist, genügt ein einziger Satz: „Ein Buch ist eine bewegliche Sache(Ein-Takt-Motor) (Basta!). Man darf kein einziges Wort der Begründung hinzufügen. Die Präsentationsform im Feststellungsstil („Basta-Stil“) sollte man häufiger verwenden. Es ist eine normale Präsentationsform. Die meisten juristischen Dinge sind nämlich glücklicherweise unproblematisch. Entgegen der landläufigen Meinung gilt das auch für Klausuren.
 
Wenn man eine juristische Arbeit schreibt, muss man imstande sein, die jeweils richtige Auswahl unter diesen drei verschiedenen Präsentationsformen zu treffen:




Aber: Das Ergebnis kann natürlich auch beim Urteil und der Feststellung erst dann an die Spitze gestellt werden, wenn die Begründung und das Ergebnis feststehen. Der gedankliche Weg hin zu dem Ergebnis ist nur in der methodischen Denkform des Gutachtens möglich. Jedem Urteil und jeder Feststellung ist deshalb notwendig ein – im Kopf wohl überlegtes – Gutachten vorausgegangen.

Zurück zu Sabine, Susanne, Sandra und Steffi:

·    Sabine ist im Gutachtenstil zu Werke gegangen.

·    Susanne hat den Urteilsstil bevorzugt.

·    Sandra wandte den Feststellungsstil an.

·    Und Steffi? Steffi  ist eine Chaotin! Sie hat das Ergebnis vorangestellt (Urteil), ohne zuvor ein gedankliches Gutachten angefertigt zu haben. Wenn sie sich nicht schleunigst um den vorwärtsentwickelnden Gutachtenstil bemüht, wird sie um viel Frust im Leben im Allgemeinen und im juristischen Leben im Besonderen nicht herumkommen. „Erst denken – dann sprechen“, sagt der weise Volksmund und trifft den Nagel auf den juristischen Kopf. Erst das Ergebnis herauszuposaunen, um dann feststellen zu müssen, dass es an allen Ecken und Enden an den Voraussetzungen hapert, ist eine Eselei. Erst das „denkende“ Gutachten – dann das „sprechende“ Ergebnis verkünden, nur das ist der rechte juristische Weg!





Ein guter Rat zum Schluss: In Ihren Klausuren „sollen“ Sie laut Expertenmeinung nur im Gutachtenstil schreiben. Einer der größten Fehler beim Klausurenschreiben soll angeblich darin bestehen, den verpönten Feststellungsstil zu verwenden. Das stimmt aber so nicht! Wollte man den höchst aufwendigen Gutachtenstil konsequent durchhalten, so bedürfte man nicht vier, sondern zwölf Stunden für eine Klausur; man käme nicht mit zwanzig Seiten Klausurentext aus, sondern die Ausarbeitungen würden auf den Umfang eines Epos‘ anschwellen (s.o. den „Musterfall“). Dass man sein Klausurenwerk dennoch in der gebotenen Zeit und der gebotenen Kürze vollenden kann, liegt an folgendem Trick: Alles, was unproblematisch und fraglos ist, was also kein vernünftiger Mensch in Zweifel ziehen würde, wird als einfache Feststellung geschrieben, ganz ohne Subsumtion. Niemand hätte z.B. beim Herauslassen der Luft aus Nachbars Reifen den geringsten Zweifel an der „Sachqualität“ und „Fremdheit“ des Autoreifens. Also stellt man lapidar fest: „Bei dem Autoreifen des Nachbarn N handelt es sich um eine für T fremde Sache.“ (Basta!) Jetzt erst wird auf den Gut-achtenstil umgeschaltet. Denn das Tatbestandsmerkmal „beschädigen“ ist offensichtlich problembehaftet im Falle der „Entlüftung“ eines Autoreifens.
Das „Gutachtenschreiben“ verführt dazu, diesen Feststellungsstil zu unterdrücken. Klausuren enthalten zwar immer vier bis sechs Probleme. Der überwiegende Teil der Lösung ist aber unproblematisch und muss daher als einfache Feststellung im Feststellungsstil präsentiert werden. Feststellungen erfordern nur einen geringen Aufwand. Diese Präsentationsform ist daher zeitlich und räumlich äußerst ökonomisch. Sie erleichtert nicht nur dem Klausuranden das Leben, sondern auch dem Prüfer. Das wird sich in einer guten Benotung auswirken. Die Präsentationsform „Feststellung“ ist freilich ungewohnt. Sie klingt nicht wie der übliche juristische Gebetsruf, und deshalb neigen die Klausuranden dazu, auch offenkundige Feststellungen in ihren Klausuren mit juristisch klingenden Gutachtengarnierungen zu versehen. Hierin liegt die tiefere Ursache dafür, dass die meisten Klausuranden in ihren Klausuren mit der Zeit nicht zurechtkommen. Es ist nicht die Aufgabe des Studenten, alles und jedes zu problematisieren und sich damit in Zeit und Raum zu verlieren. Man könnte den „unproblematischen Rest“ auch einfach ganz fallen lassen, bestünde nicht die große Gefahr, die Gesamtstruktur der Klausur aus dem Auge zu verlieren. Die Plastizität, die Prägnanz, die Anschaulichkeit der Klausurendarstellung – mit einem Wort: die Ordnung – ginge verloren. Man benutzt die nackten „Basta-Teile“ lediglich der Vollständigkeit halber als verbindende Zwischenschritte zu den „Problem-Teilen“ auf dem Weg zu einer geschlossenen, formvollendeten Lösung.
Keine Angst: Sie wachsen so ganz von alleine allmählich in das „Gutachtenschreiben“ hinein! Sehr schnell werden Sie die Fähigkeit erwerben, zwischen der lediglich festzustellenden Normalität und den Problemen in der Klausur zu unterscheiden. Klar ist: Der Gutachtenstil ist äußerst aufwendig – der Feststellungsstil ist äußerst ökonomisch! Das heißt übersetzt für Klausuren:
·   Unmittelbar Evidentes, also Offenkundiges, was direkt einleuchtet, ist Nebensache: Also „Basta-Stil“.
·   Mittelbar Evidentes, was nicht direkt einleuchtet, ist Hauptsache: Also „Gutachtenstil“.
 
Ein letzter Rat: Die Präsentationsform „Gutachten“ birgt drei gravierende Gefahren, vor denen man sich hüten muss: Sie verführt dazu,
·     erstens den Sachverhalt bei der Subsumtion zu wiederholen,
·     zweitens das Gesetz bei den Prämissen ständig abzuschreiben und zu wiederholen.
Beides sind sinnlose Beschäftigungen. Der Prüfer kennt beides! Er ärgert sich, wenn er solche nicht zielführenden Ausführungen lesen muss.
·     Drittens verleitet das Gutachten dazu, abstrakte Abhandlungen, losgelöst vom konkreten Fall (Besinnungsaufsatz), zu (im besten Fall) juristischen Themen zu unterbreiten und damit die Arbeit am und mit dem Gesetz sträflich zu vernachlässigen.
 

Die Erkenntnisse des eben Gelernten bringen erst den Übergang zum „Juristen“ hervor. 
Schlechte Juristen erkennt man daran, dass sie keine Fälle lösen können. Sie haben aber ab jetzt ein innerlich angeeignetes Falllösungsprogramm für Ihr weiteres Studium:
1.        Passendes Gesetz als Antwortnorm suchen, egal ob im BGB oder im StGB
2.       Tatbestandsmerkmal um Tatbestandsmerkmal herausstanzen
3.       Stopp: Stolpern Sie über ein Tatbestandsmerkmal? Das ist dann der Fall, wenn Sie es nicht ohne Weiteres bejahen oder verneinen können. Dabei stellen Sie sich einen Normalfall vor, der den Gesetzgeber wohl zur Schaffung dieses Tatbestandsmerkmals veranlasst haben könnte.
4.       Handelt es sich bei dem „Stolperer“ um eine erhebliche Abweichung vom Normalfall oder um eine unerhebliche?
5.       Wenn „erheblich“, folgt jetzt der Kraftakt im Gutachten! Auslegung betreiben – Definition festlegen – Subsumtion vornehmen – Problemdiskussionen vornehmen mit „Pro und Contra“. Wenn „unerheblich“, Feststellungsstil anwenden!
6.       Erst jetzt lassen Sie Ihr Rechtsgefühl sprechen und dann treffen Sie die endgültige Entscheidung: Zwischenergebnis festhalten.

So ist es und so wird es immer bleiben! Bei jedem TBM!
 
Etwas Kritik muss aber sein am Subsumtionsstil der Juristen: Ich will Sie jetzt nicht verunsichern, nur sensibilisieren, um ein eigenes Urteil fällen zu können. Die Subsumtionsmethode hält strengen (natur)wissenschaftlichen Kriterien nicht so recht stand. Sie weist nämlich mangelnde Vorhersehbarkeit und damit fehlende Objektivität in der Rechtsgewinnung auf. Stichwort: ein Fall, ein Problem! Drei Meinungen? Drei Urteile? – Die Subsumtionsmethode ist offensichtlich nicht das absolut sichere logisch-deduktive Verfahren, das immer und notwendig den „einzig richtigen“ Eintritt der Rechtsfolge bewirkt. Das liegt daran, dass sowohl die Tatbestandsmerkmale des Gesetzes als auch die Tatsachen des Falles ausgelegt, definiert und wertend aufeinander bezogen werden müssen und damit einer Objektivität entzogen sind und einer Subjektivität des Gesetzesanwenders Platz geben. Ein weiterer Grund ist, dass diese Auslegungen und die wertenden Zuordnungen eine nicht unerhebliche Portion persönliches „Rechtsgefühl“ der richterlichen Anwender enthalten und somit die oftmals mehr „rechtsgefühlte“ Rechtsfolge im Nachhinein durch das Gericht manchmal nur scheinbar mit und aus dem Gesetz abgeleitet wird.

...

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