Was steckt hinter dem berühmt-berüchtigten ‚Juristischen Denken und Arbeiten‘? – Das Gutachten! Ich schreibe jetzt einen der wichtigsten Beiträge für Sie. Urteilen Sie selbst – aber erst am Ende des Beitrages.
Viele Studenten seufzen nach den ersten Vorlesungen vernehmlich: „Es muss doch aber etwas alle Gesetze und Fälle Verbindendes, ein gemeinsames Band – einen Soundtrack geben.“ Dieses Gemeinsame gibt es in der Tat! Es ist das „Juristische Denken und Arbeiten“.
Unter den Ärzten der Antike gab es einst die Gruppe der sogenannten „Methodiker“ – sie waren, wie der Name schon sagt, höchst systematische Geister. Sie wollten Ordnung in das Chaos der Medizin bringen. Wozu die unübersehbaren vielen Heilverfahren, Heilmittel und Heilkräuter? Die „Methodiker“ waren der Ansicht, dass man alle Krankheiten mit ein und derselben Methode behandeln könne. GenialeIdee! Doch leider verschwanden diese „Methodiker“ vollständig von der medizinischen Bildfläche, ohne ihre wunderbare Einheitsmethode jemals gefunden zu haben.
Auch in der Philosophie hörte man bereits in der Antike die Meinung, dass Chaos der philosophischen Probleme ließe sich auf ein und dieselbe Weise glücklich ordnen. Doch im Unterschied zu den „Methodikern“ in der Medizin sind die philosophischen „Methodiker“ keinesfalls ausgestorben. Vielmehr wird bis heute immer wieder verkündet, man habe jetzt die philosophische Methode entdeckt, von der überall Fortschritte zu erwarten seien. Und wo die wunderbare Einheitsmethode dann mal nicht passt, erklärt man das entsprechende Thema kurzerhand für unsinnig oder nicht existent.
Die Wahrheit ist aber, dass man in der Philosophie ebenso wie in der Medizin mit einer Vielzahl von Verfahren arbeiten muss. Ganz anders in der Juristerei! Wir haben Ordnung in das Chaos des Aufeinanderprallens von Leben und Gesetz gebracht. Die Juristen können alle „Fälle“ mit ein und derselben Methode behandeln. Geniale Idee! Das Bestaunenswerte, um das uns alle anderen beneiden, ist unsere Methode, unsere Einheitsmethode des Gutachtens!
Hinter dem Terminus „Juristisches Denken und Arbeiten“ verbirgt sich etwas ganz Großartiges, nämlich die Methodik der Fallbearbeitung mit ihrem Gutachten und ihrer Subsumtion. Juristisches Denken und Arbeiten ist eigentlich nichts anderes als eine durch Übung erarbeitete Rechtsanwendungskunst. Ohne sie geht nichts in der Juristerei. Diese Kunst wird Ihnen als das Alleinstellungsmerkmal unserer Zunft zur Selbstverständlichkeit werden! Es ist ein Betriebsgeheimnis der Juristen: das Zurdeckungbringen von Sachverhalt und Gesetz in einem Gutachten.
Die Fallherangehensweise erfolgt immer nach dem gleichen Gutachten-Programm:
Vielleicht haben Sie seit den ersten Wochen Ihres Studiums bereits erkannt, wie wichtig Rechtsanwendung in einem Gutachten ist. Ohne das Bedingungsgefüge: ● Sachverhalt ● Gesetz ● Konditionalprogramm ● gesetzliche Tatbestandsmerkmale ● Gutachten ● Auslegung ● Definition ● Subsumtion ● Schlussfolgerung läuft in der Juristerei nichts zusammen. Das eliminierte Tatbestandsmerkmal wird im Gutachten erst durch die auslegende Interpretation und nachfolgende Definition für die Subsumtion „scharf“. Ohne die die Tatbestandsmerkmale für die Definitionen aufschließenden Auslegungen ist der Subsumtionsvorgang im Gutachten ein reines Glücksspiel und damit für einen Juristen unmöglich, da es zu ungleichen Beurteilungen gleicher Sachverhalte führen kann. Sie können dieses ewige Wechselspiel von Sachverhalt und Gesetz deshalb bald durchschauen – und ich kann es Ihnen jetzt Schritt vor Schritt zu rekonstruieren beginnen, weil es nach Regeln und Methoden abläuft, die festliegen.
- Zunächst müssen Sie jedes einzelne Tatbestandsmerkmal aus dem Gesetz herausstanzen, es eliminieren,
- es dann bestimmen, auslegen, interpretieren,
- es begrifflich abgrenzen, definieren,
- dann den Sachverhalt unter dieses „entfaltete“ Tatbestandsmerkmal subsumieren,
- um am Ende die Schlussfolgerung (conclusio) zu ziehen, konkludieren.
Eliminieren ● Interpretieren ● Definieren ● Subsumieren ● Konkludieren! So werden Tatbestandsmerkmale „abgearbeitet“ und nur so wird „Juristisches Denken und Arbeiten“ betrieben, egal von welchem Juristen in welcher Profession auch immer. Die Methode der gutachtlichen Rechtsanwendung ist immer gleich! Niemals wird in einer juristischen Klausuren Wissen nur „abgeladen“, sondern Wissen wird immer „angewendet“. Und das geschieht mit der Methode des Gutachtens.
Bei keiner juristisch-wissenschaftlichen Klausur oder Hausarbeit ist es möglich, aus der Aufgabenstellung (sog. Bearbeitervermerk) heraus sofort den endgültigen Gedankengang zu erörtern. Um eine solche Leistung nun gut zu bestehen, sind juristische Kenntnisse zwar notwendig, aber nicht hinreichend.
Dieses „Juristische Denken und Arbeiten“ hat tragende Bedeutung für Ihr gesamtes Juristenleben! In der Juristerei müssen Sie, wie in der Architektur auch, zwischen tragenden und lastenden Teilen unterscheiden: Die methodische Rechtsanwendung mit ihrem Gutachten und ihrer Subsumtion gehört zu den tragenden Teilen! Man erlernt allerdings die Methodik der Fallanwendung nicht wie eine Sprache und die Grammatik so nebenbei, sondern nur durch langandauernde Übung.
Für Sie wird sich die Fähigkeit des „Juristischen Denkens und Arbeitens“ in der Bearbeitung Ihrer Klausuren manifestieren. Klausurenmethode, Methodik der Fallbearbeitung, Subsumtionsmethode, Technik der Fallbearbeitung, Gutachtenmethode – ein wildes Durcheinander an Termini. Der beste Begriff ist sicherlich der der Klausurentechnik. Technik (téchne) wird hier in der griechischen Bedeutung von Kunstfertigkeit verstanden. Er ist weit und umfasst alles, was wir brauchen, nämlich sowohl die Rahmenbedingungen, wo und wann die Klausur mit welchen Hilfsmitteln in welcher Zeitvorgabe, in welcher äußeren Form und in welcher Sprache geschrieben wird, als auch die Technik der Fallbearbeitung, die nun ihrerseits die Gutachtentechnik, diese wiederum den Arbeitsschritt der Subsumtionstechnik mit ihrer Auslegungs- und Definitionskunst umschließt.
Die Hochschulen übersehen häufig die „Allgegenwart“ dieser Methodik und versäumen oft sträflich, ihr die gebührende Stellung gleich im Beginn des Jurastudiums einzuräumen. Sie versteigen sich in die „Rechtswissenschaft“ unter Vernachlässigung des „Handwerklichen“. Gesetze überleben sich, unterliegen dem Prozess des Sterbens und Geborenwerdens. Die Sternbilder juristischer Methodik im Umgang mit dem Fall und dem Gesetz aber – die Klausurentechnik – schimmern in ewiger Unvergänglichkeit über den Friedhöfen der Paragraphen, Gesetze und Entscheidungen. Wer diese Methoden im studentischen Griff hat, meistert das „Juristische Denken und Arbeiten“.
Es ist Ihnen sicherlich schon deutlich geworden, dass die Juristen alle „Fälle“ mit ein und derselben Methode behandeln können, der Einheitsmethode des Gutachtens! Das Gutachten ist das wichtigste gemeinsame Gen in der kollektiven DNA aller Juristen. Damit haben Juristen Ordnung in das Chaos des Aufeinanderprallens von „lebendigem“ Leben und „totem“ Gesetz in der Fallbearbeitung gebracht. Das Bestaunenswerte, um das uns andere Wissenschaften ausnahmsweise mal beneiden, ist diese Methode zur Lösung von Fällen: die Einheitsmethode des Gutachtens! Überall, wo eine juristische Wahrheit gesucht wird, ist es das Gutachten, das da mitsucht.
Wer diese Kunstfertigkeit der Rechtsanwendung – für Sie Klausurentechnik – nicht beherrscht, hat keine Aussicht auf juristischen Erfolg! Das Gutachten wird geformt im Geist einer logischen Artistik. Die geheimnisvolle Gutachtentechnik ist die Summe der Folgerungen und Denktätigkeiten, welche dem „Juristischen Denken und Arbeiten“ seine Richtigkeit sichert. Es ist das Handwerk, nach dem die Juristen mit der Unzahl von Gesetzen und Fällen fertig werden. Und: Es ist eine wissenschaftliche Methode, da sie vom Allgemeinen auf das Besondere herabgeht, da sie jeden vorliegenden Fall durch Anwendung derselben Regelmethode entscheidet und daher durch Anwendung ein- und derselben Regel Tausende ähnlicher Fälle entscheiden kann. Diese Methode durchzieht wie ein goldener Faden die Juristerei. Sie ist für Sie der treue Begleiter bis zum Examen und behauptet sich immer wieder aufs Neue gegen die Vielheit der Gesetze und Fälle. Sie verleiht das gleichmäßige und damit gerechte Vollziehen und die logische Richtung Ihrer Denkbewegungen und Arbeitsschritte. Das Gutachten liefert sowohl das Präzisionsinstrument zur „denkenden“ Fallbearbeitung als auch die Präsentationsform der Darstellung. Es verbürgt damit insgesamt den Erfolg Ihrer Klausuren und Hausarbeiten.
Diese juristische Einheitsmethodik wird Ihre Falllösung immer richtig steuern und Sie so zu vertretbaren Lösungen führen. Diese Methodik setzt anstelle eines ungeschulten, planlosen Verfahrens, einer ungerechten, weil ungleichmäßigen juristischen Behandlung das rationelle, rationale und ewig gültige Gutachten. Vom methodisch richtigen sezierenden Erarbeiten der Gesetze, vom methodisch richtig geschulten gutachtlichen Verarbeiten und vom sprachlichen Ausdruck des gutachtlich Präsentierten hängt das Ergebnis Ihrer Klausuren ab. Die Prädikatsnote ist das Produkt aus Gesetz, Sachverhalt, Ihrem erlernten juristischen Wissen und Ihrem in allen gutachtlichen Denk- und Arbeitsvariationen „methodisch-geschulten“ hellen Köpfchen!
- Im juristischen Gutachten zu arbeiten – das heißt, juristisch zu denken und zu arbeiten!
- Das juristische Gutachten zu beherrschen – das heißt, das juristische Denken und Arbeiten zu beherrschen!
- Das juristische Gutachten zu verbessern – das heißt folglich, sein juristisches Denken und Arbeiten zu verbessern!
Der Kern jeder juristischen Arbeit ist das Gutachten! Der Kampf um Qualität ist in der Juristerei immer ein Kampf um das Gutachten. Das Gutachten ist das Immunsystem, um Fehler bei der Fallbearbeitung abzuwehren.
Los geht’s! Ab jetzt gilt: „Gut achten auf das Gutachten“
Ich wiederhole mich gern: Die Juristerei ist auch ein Handwerk! Ein Handwerk erlernt man durch Übung. Und Übung erlernt man durch Üben. Sie können so viele Lehr- und Lernprogramme für juristisches Wissen haben, wie Sie wollen. Keines entlastet Sie vom Erlernen, Verstehen und handwerklichen Anwenden des Gutachtens.
Also: In der Juristerei hat man es immer mit zwei gegeneinander in Stellung gebrachten Denkgegenständen und einer Denkoperation zu tun, nämlich:
- Denkgegenstand 1: das Gesetz, eingebunden in die Rechtsordnung
- Denkgegenstand 2: derSachverhalt, eingebunden in das Alltagsleben.
Bei dieser Frontstellung von Denkgegenstand „Gesetz“ und Denkgegenstand „Sachverhalt“ bleibt es bei den Juristen aber nicht stehen. Das wichtigste Betätigungsfeld für einen Juristen ist das Auflösen dieser Frontstellung, die versöhnende Passung der zwei Denkgegenstände „Gesetz“ und „Sachverhalt“ durch eine
- Denkoperation: die Subsumtion, die in das Gutachten eingebettet ist.
Subsumtion ist das Fremdwort für das operative Zurdeckungbringen beider Denkgegenstände. Oder: die Unterordnung eines Sachverhaltes unter eine Rechtsnorm. Jura braucht erstens das Gesetz, zweitens den Sachverhalt und drittens das Gutachten mit seinen Auslegungen, Definitionen und seinem „Deckungsverfahren“ der Subsumtion!
Der Sachverhaltist eine meist recht spannende Geschichte. Es ist ein Lebensausschnitt, bestehend aus Tatsachen, der einer juristischen Klärung bedarf. Ohne „Sachverhalt“, ohne „Fall“, gäbe es kein Recht! Der Fall war und ist der entscheidende Auslöser für Gesetz und Rechtsanwendung in Studium und Praxis. Die Fälle stammen aus dem Leben der Menschen, die Gesetze aus der Hand des Gesetzgebers. Da die Kombinationskunst des Lebens unerschöpflich ist, ist auch die Kombinationskunst mit den Gesetzen und folglich sind auch die Operationen der Rechtsanwendung unerschöpflich. Was braucht ein Sachverhalt? – Ein Sachverhalt braucht eine Geschichte – in Klausuren unstreitig, in der Praxis meist streitig –, im Strafrecht im Regelfall mindestens eine Person, die ein Rechtsgut eines anderen oder der Allgemeinheit verletzt hat und im Zivilrecht mindestens zwei Personen, die sich um ein Gut streiten, und jeweils ein Gesetz, mit dem die Zwei entweder den Streit um das Gut lösen können (BGB) oder das die Verletzung des Rechtsgutes mit Strafe bedroht und den Staatsanwalt auf den Plan ruft (StGB). Sie müssen wissen: Sämtliche juristischen Fälle spielen sich ab jetzt für Sie immer vor dem gleichen Hintergrund ab. Der Gutachtenstil und die Subsumtionstechnik mit ihren Helfern der Auslegungs- und Definitionslehre bilden die weiße Folie, vor der die Schattenspieler A, B und C Ihrer juristischen Fälle ihre strafrechtlichen Tragödien oder ihre privatrechtlichen, mehr oder weniger querulatorischen Rechtsschauspiele für Sie aufführen. Ihre Präzisionsinstrumente bestehen ab jetzt immer mehr ihre zivilrechtlichen und strafrechtlichen Bewährungen!
Beispiel: Max verprügelt Moritz aus Eifersucht und schlägt ihm dabei das Nasenbein ein.
- Dieses Beispiel ist ein Lebensausschnitt zweier Menschen, Max und Moritz. Tatsachen sind hier „Verprügeln“ und „Einschlagen“.
- Dieser Ausschnitt wird zum juristischen Sachverhalt, wenn er einer juristischen Klärung (Lösung) bedarf.
- Er mutiert zum strafrechtlichen Sachverhalt, wenn er einer strafrechtlichen Lösung bedarf. Wenn man etwa fragt: „Hat Max sich strafbar gemacht?“
- Er mutiert zum zivilrechtlichen Sachverhalt, wenn er einer bürgerlich-rechtlichen Klärung bedarf. Wenn man etwa fragt: „Kann Moritz von Max Schadenersatz verlangen?“
- Dieser juristische Sachverhalt wechselt seine Bezeichnung erneut, wenn er von einem Studenten bearbeitet werden muss. Das Chamäleon heißt jetzt schlicht: „Der FALL“!
Alle Ratschläge für diese juristische „Hebammenkunst“ der Rechtsanwendung hören sich in der abstrakten Beschreibung in Lehrbüchern und Vorlesungen immer so himmlisch einfach an, werden aber höllisch kompliziert, wenn der Student versucht, „Juristisches Denken und Arbeiten“ praktisch zu realisieren. Den dozentischen Fingerzeig „Sie müssen das Gutachten beherrschen lernen!“ in konkretes studentisches Handeln umzusetzen, ist oft und gerade am Anfang ein schwieriges und umfangreiches Programm. Das Gesetz selbst bietet dazu keine und die Dozenten in ihrem Stoffdruck meist keine allzu große Hilfe an. Dabei bietet sogar der Alltag eine Fülle lehrhafter Beispiele.
Versuchen wir es einmal mit folgenden vier Holland-Wochenendplanungen der Freundinnen Sabine, Susanne, Sandra und Steffi.
Sabine:
„Am Wochenende könnte ich nach Holland ans Meer fahren.
Das setzt voraus, dass ich Geld habe, dass ich Zeit habe und dass mein Freund mitfährt.
Mein Freund hat Lust, ich habe Zeit, da meine Klausuren gerade vorüber sind,
aber ich habe kein Geld mehr.
Also kann ich am Wochenende nicht nach Holland ans Meer fahren.“
Susanne:
„Am Wochenende fahre ich nach Holland ans Meer.
Denn mein Freund hat Lust, ich habe Geld und Zeit.“
Sandra:
„Am Wochenende fahre ich nach Holland ans Meer. Basta!“
Steffi:
„Am Wochenende fahre ich nach Holland.“
Freund: „Ich würde ja mitfahren, aber hast du überhaupt Zeit?“
Steffi: „Ja, meine Klausuren sind gerade geschrieben.“
Freund: „Hast du denn auch Geld für eine solche Fahrt?“
Steffi: „Verdammt, nein, ich habe mir ja gerade den neuen Tennisschläger gekauft.“
Freund: „Dann kannst du auch nicht am Wochenende nach Holland fahren!“
Steffi: „Oh, das ist schade!“
Alle Vier hatten ein Problem: Sie wollten am Wochenende nach Holland. Dieses Problem musste gelöst werden. Eine Problemlösung hat zwei Elemente:
- Sie enthält eine Begründung (Lust/Geld/ Zeit)
- Sie führt zu einem Ergebnis (ich fahre / ich fahre nicht)
Zur Darstellung dieser Problemlösung gibt es drei Möglichkeiten
Erstens: Der Gutachtenstil
Das Gutachten folgt prinzipiell der Denkform, in der die Lösung erarbeitet wird, d.h. man geht von der Frage(Problem-)stellung aus („Kann ich am Wochenende nach Holland fahren?“) und entwickelt den Gedankengang zum Ergebnis hin. Der Gutachtentechnik liegt eine Funktionsweise juristischer Schlussfolgerungen zugrunde. Es handelt sich
- auf konkrete Lebensausschnitte („Fälle“).
Nehmen wir zwei Beispiele:
Beispiel 1: Muss Jupp bei einem Autounfall Hilfe leisten?
Beispiel 2: Muss Jupp bei Ehestreitereien Hilfe leisten?
Der allgemeine Sollens-Satz steht im StGB und lautet: „Du sollst bei Unglücksfall Hilfe leisten.“ (Siehe § 323 c StGB)
Um aus diesem allgemeinen Sollens-Satz auf einen konkreten Fall (Beispiel 1: „Autocrash“, Beispiel 2: „Ehestreit“) bezogene Folgerungen zu gewinnen („Muss Jupp Hilfe leisten?“), hat man sich eines logischen Schlusses bedient, den man seit Aristoteles „Syllogismus“ nennt, weniger klassisch: Deckungsarbeit. Es ist ein handwerkliches (methodisches) Verfahren, mit dem man auf überzeugende Weise Antworten zu allen moralischen und rechtlichen Fragen findet.
Beispiel 1:
Bei Unglücksfällen sollst (musst) Du Hilfe leisten. (Sollens-Satz)
Jupp erlebt einen Autounfall mit. (Lebensausschnitt)
Ein Autounfall ist ein Unglücksfall. (Deckungsarbeit ohne Definition)
Also soll (muss) Jupp Hilfe leisten. (Schlussfolgerung)
Beispiel 2:
Bei Unglücksfällen sollst (musst) Du Hilfe leisten. (Sollens-Satz)
Jupp erlebt einen Ehestreit mit. (Lebensausschnitt)
Ein Ehestreit ist kein Unglücksfall. (Deckungsarbeit ohne Definition)
Also soll (muss) Jupp keine Hilfe leisten. (Schlussfolgerung)
Die gewonnenen Aussagen sind zwar trivial, das Verfahren dagegen genial! Nach diesem Verfahren läuft der größte Teil juristischer Arbeit ab.
Zurück nach „Holland“! Da zunächst nur die Fragestellung bekannt ist („Kann ich nach Holland fahren?“) und das Ergebnis noch gesucht wird („Ich fahre/ich fahre nicht“), verläuft der Gedankengang so, dass von der Fragestellung ausgegangen und Schritt für Schritt zum Ergebnis hin gefolgert wird. Würde man aufgefordert, dies schriftlich darzustellen, wäre der Leser sehr daran interessiert, die Gedankenfolge so dargelegt zu bekommen, wie sie sich im Kopf entwickelt hat. Der Leser ist bei dem entwickelnden Denken des gutachtlich arbeitenden Studenten gleichsam „live“ dabei. Dadurch kann er den Gedankengang des „Gutachters“ genau nachvollziehen. Das nennt man „ein Gutachten anfertigen“. Diesem gedanklichen Vorgehen entsprechen gewisse Eigenarten der sprachlichen Formulierung („es könnte“ – „also“), weshalb man vom „Gutachtenstil“ spricht.
Das Denken in der Form des Gutachtenstils vollzieht sich in folgenden vier Denkschritten (wir nennen das mal „Vier-Takt-Motor“):
1. Hypothese
Gutachtliche Zielformulierung: „Es könnte“
Es wird ein bestimmtes, die Fragestellung beantwortendes Ergebnis als möglich hingestellt (hypothetisches Ergebnis).
„Am Wochenende könnte ich nach Holland fahren!“
2. Aufstellung eines Untersuchungsprogramms
Gutachtliche Strukturierung: „Das setzt voraus“
Es werden nunmehr die Voraussetzungen (sämtliche!) gesucht, bei deren Vorliegen man zu dem vorgeschlagenen Ergebnis (Holland) kommt.
„Das setzt voraus, dass mein Freund Lust hat und ich Geld und Zeit habe.“
3. Subsumtion
Gutachtliche Inszenierung: „Hat mein Freund Lust? Habe ich Geld und Zeit?“
In Ausführung des bekannt gegebenen Untersuchungsprogramms wird jetzt geprüft, ob die Voraussetzungen auch tatsächlich vorliegen. Das Auge wandert hin und her zwischen den einzelnen Voraussetzungen des Untersuchungsprogramms und den tatsächlichen Gegebenheiten. Die Realität spiegelt sich in den Prämissen:
- „Des Freundes Lust: ja/nein“
- „Meine Zeit: ja/nein“
- „Mein Geld: ja/nein“
Gelingt die spiegelnde Entsprechung, gelingt die Subsumtion (positive Subsumtion). Scheitert die Entsprechung, scheitert die Subsumtion (negative Subsumtion).
4. Ergebnis
Gutachtliche Zielkontrolle: „Also ja oder nein“.
Der letzte Schritt besteht darin, das Ergebnis der Prüfung, der Subsumtion, festzustellen. Durch das Ergebnis wird die Ausgangshypothese, die Fragestellung, bestätigt (wissenschaftlich: verifiziert) oder widerlegt (wissenschaftlich: falsifiziert).
„Also kann ich nach Holland fahren“ (alle Voraussetzungen passen), oder:
„Also kann ich nicht nach Holland fahren“ (mindestens eine Voraussetzung passt nicht).
Für den Gutachtenstil ist symptomatisch:
- Die Hypothese wird mit Wendungen vorgestellt wie: könnte nach Holland fahren, möglicherweise fahre ich nach Holland, kommt eine Hollandfahrt in Betracht, ist zu prüfen, ob ich nach Holland fahre, fraglich ist, ob ich nach Holland fahren kann.
Das folgt daraus, dass man es bis zum vierten Denkschritt nur mit einem hypothetischen Ergebnis zu tun hat, ein Umstand, der bei der Formulierung des Gutachtens sprachlich deutlich gemacht werden muss.
- Das Ergebnis wird eingeleitet durch: also, somit, folglich, daraus folgt.
Es ist der Schlussstein des Gutachtens.
Grafische Darstellung des juristischen Codes des Gutachtenstils
Zurück zu Sabine, Susanne, Sandra und Steffi:
· Sabine ist im Gutachtenstil zu Werke gegangen.
· Susanne hat den Urteilsstil bevorzugt.
· Sandra wandte den Feststellungsstil an.
· Und Steffi? Steffi ist eine Chaotin! Sie hat das Ergebnis vorangestellt (Urteil), ohne zuvor ein gedankliches Gutachten angefertigt zu haben. Wenn sie sich nicht schleunigst um den vorwärtsentwickelnden Gutachtenstil bemüht, wird sie um viel Frust im Leben im Allgemeinen und im juristischen Leben im Besonderen nicht herumkommen. „Erst denken – dann sprechen“, sagt der weise Volksmund und trifft den Nagel auf den juristischen Kopf. Erst das Ergebnis herauszuposaunen, um dann feststellen zu müssen, dass es an allen Ecken und Enden an den Voraussetzungen hapert, ist eine Eselei. Erst das „denkende“ Gutachten – dann das „sprechende“ Ergebnis verkünden, nur das ist der rechte juristische Weg!