Entschuldigender Notstand

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Bei diesem Entschuldigungsgrund handelt es sich um einen auch philosophisch hochinteressanten Fall, da sich in ihm Moral, Ethik und Gesetz wie in einem Prisma brechen. Es gibt nämlich Konfliktsituationen, in denen eine Tat zwar rechtswidrig, aber aufgrund eines hohen moralischen Motivationsdrucks nicht vorwerfbar ist.

Beispiel 1: Eine Seilschaft, bestehend aus A, R und L, gerät in der Karawankenwand in einen Steinschlag. Während A auf einer Felsnase vorübergehend Halt gefunden hat, baumeln R und L über dem Abgrund. R, der an zweiter Stelle ins Seil eingebunden ist, erkennt, dass A das Seil mit zwei Personen nicht mehr halten kann. Er schneidet L ab. L stürzt in der Felswand zu Tode; A zieht R nach oben.

Beispiel 2: Bei einem Flugzeugabsturz in den Anden überleben zwei Studenten wie durch ein Wunder dadurch, dass sie in 4000 m Höhe auf einem Schneebrett landen. Nach endlosen Strapazen und fast verhungert erschlägt S1 den S2 und ernährt sich von dessen Fleisch.

Beispiel 3: Geiselgangster G zwingt sein Opfer O, den zur Verfügung gestellten Fluchtwagen zu steuern. Als sich ihnen ein Passant in den Weg stellt, zieht G seine geladene Pistole und brüllt: „Vollgas!“ Passant P wird durch O tödlich verletzt.

Beispiel 4: Auf den Bahamas unternimmt Vater V mit seinem Sohn S und dessen Freundin F einen Tauchgang mit Pressluftflaschen. In 50 m Tiefe versagt der Lungenautomat des S. V erkennt, dass S nur dadurch gerettet werden kann, dass er den Sauerstoff aus einem anderen Lungenautomaten erhält. Ohne zu zögern entreißt er F mit Gewalt ihren Automaten und schließt ihn bei S an, obwohl er weiß, dass F damit den sicheren Tod erleidet. Wäre eine Bestrafung „gerecht“ oder „ungerecht“? – Sind die Handelnden „gut“ oder „böse“? In Betracht käme jeweils eine Verurteilung wegen Totschlags gem. § 212 StGB. R, S1, O und V haben, jeweils kausal, einen Menschen getötet, ohne Mörder zu sein, mithin jeweils tatbestandlich i.S.v. § 212 StGB gehandelt. Die durch die Tatbestandserfüllung indizierte Rechtswidrigkeit entfällt nicht: Notwehr gem. § 32 Abs. 1, 2 StGB kommt als Rechtfertigungsgrund nicht in Frage, da die Opfer in keinem der Fälle angegriffen haben. Auch der rechtfertigende Notstand gem. § 34 StGB muss als Rechtfertigungsgrund ausscheiden, da hier nicht zwei Interessen unterschiedlicher Qualität miteinander kollidieren, sondern Leben gegen Leben steht, folglich keine für § 34 StGB ausreichende Kollisionslage besteht. Auch die Schuld muss nach bisherigem Erkenntnisstand bejaht werden, da die Handelnden schuldfähig sind und vorsätzlich gehandelt haben. Sie wussten, dass sie einen Menschen töten, und wollten den Erfolg auch.

Wenn man aber das Verhalten der Täter in seinem „Urgewissen“ nicht für „böse“, vielmehr für nachempfindbar und durchaus „entschuldbar“ hält und eine Bestrafung für „ungerecht“, da niemand schicksalsergeben seinen Tod oder den seiner nächsten Angehörigen hinnehmen muss – wer will schon ein Märtyrer werden –, wenn man also R, S1, O und V für straffrei erklären will, dann muss man den Horizont der Rechtsordnung nach einem Institut absuchen, durch welches in bestimmten, ganz extremen Situationen ein rechtmäßiges Handeln nicht mehr verlangt wird. Ein solches Rechtsinstitut bietet § 35 StGB, mit dem praktisch wichtigsten Entschuldigungsgrund. § 35 Abs. 1 S. 1 StGB lautet: „Wer ... handelt ohne Schuld.“ Während die Rechtsordnung beim rechtfertigenden Notstand es billigt, wenn ein überwiegendes Interesse auf Kosten eines geringeren Interesses gerettet wird, billigt sie ein solches Verhalten nicht mehr, wenn ein Interesse nur auf Kosten eines gleich- oder gar höherwertigen Interesses erhalten wer- den kann. Eine solche Tat ist und bleibt rechtswidrig. Der strafrechtliche Deliktsaufbau (Strukturaufbau einer Straftat) kennt jedoch neben dem Tatbestand und der Rechtswidrigkeit einen dritten Filter für strafbares Verhalten, nämlich die Schuld. Auf dieser Ebene hat der Gesetzgeber nun nach der Differenzierungstheorie § 35 StGB bei Notständen angesiedelt. Ein unter den Voraussetzungen dieser Norm stehender Täter „handelt ohne Schuld“, er ist „entschuldigt“, weswegen dieser Grund auch Entschuldigungsgrund oder Schuldausschließungsgrund genannt wird. Wie die Rechtswidrigkeit durch Rechtfertigungsgründe, so kann die Schuld durch Entschuldigungsgründe im Einzelfall und für den einzelnen Täter ausgeschlossen werden. Der Grund für die Entschuldigungsgründe liegt vorrangig in der Unzumutbarkeit normgerechten Verhaltens in bestimmten, fest umrissenen psychischen Ausnahmesituationen des Täters, in einer Not- oder Zwangslage für sich oder eine nahestehende Person. Er wurde bereits in der griechischen Philosophie diskutiert im Fall des „Brett des Karneades“: Zwei Schiffbrüchige retten sich auf eine Planke, die nur einen von beiden tragen kann; der Stärkere stößt den Schwächeren ins Meer, in dem dieser ertrinkt. Daneben verlangen in solchen Zwangslagen weder general- noch spezialpräventive Gesichtspunkte (Strafzwecke) eine Bestrafung, so dass das Recht, da die Schuld unter die Schwelle der Strafwürdigkeit gesunken ist, auf eine Bestrafung verzichten kann. Die Rechtsordnung rechtfertigt nicht, aber sie verzeiht. Da nun sowohl nach § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) als auch nach § 35 StGB (entschuldigender Notstand) Straflosigkeit eintritt, die Notstände lediglich auf unterschiedlicher Ebene des Deliktsaufbaus geprüft werden (§ 34 StGB auf der Ebene der Rechtswidrigkeit; § 35 StGB auf der Ebene der Schuld), ist die vorgenommene Differenzierung für den Täter selbst eigentlich gleichgültig; er wird jedenfalls freigesprochen. R, S1, O oder V ist es ziemlich egal, ob die jeweilige Tat gerechtfertigt oder individuell nicht vorwerfbar, also entschuldigt ist.

Die unterschiedliche rechtliche Handhabung auf den verschiedenen Deliktsebenen hat aber zwei erhebliche praktische Konsequenzen: 1. Konsequenz: Unterstellen Sie einmal in den Ausgangsfällen, dass die jeweiligen Opfer L, S2, P oder F ihrerseits mit Pistole oder Tauchmesser bewaffnet sind und ihre Angreifer töten. Sind die Täter nach § 34 StGB gerechtfertigt, so scheidet für die Opfer Notwehr i.S. des § 32 StGB aus, da kein rechtswidriger Angriff vorliegt – sind sie dagegen über § 35 StGB nur entschuldigt, so greift das Notwehrrecht ein, da die Tat nur entschuldigt ist, aber rechtswidrig bleibt. § 32 StGB verlangt einen rechtswidrigen Angriff, keinen schuldhaften. Also: Notwehr gegen einen entschuldigt handelnden Täter ist zulässig. Diese sog. „Notwehrprobe“ führt insbesondere in dem Seilschaftsfall dazu, für R doch nur den entschuldigenden Notstand eingreifen zu lassen und nicht den rechtfertigenden Notstand heranzuziehen mit dem durchaus überlegenswerten Argument, es kollidiere das bereits endgültig verlorene Leben des L gegen das noch zu rettende Leben des R, mithin zwei Interessen unterschiedlicher Qualität. 2. Konsequenz: Unterstellen Sie weiter, dass jeweils ein Dritter – quasi durch Zuruf – in den Tätern den Entschluss hervorgerufen hat, das Opfer zu töten, die Täter also angestiftet hat. Während bei einem im entschuldigenden Notstand des § 35 StGB handelnden Täter eine Bestrafung wegen Anstiftung in Betracht kommt (es sei denn, der Anstifter ist seinerseits eine dem Täter nahestehende Person), scheidet eine Anstiftung bei einem im Notstand des § 34 StGB handelnden Haupttäter mangels rechtswidriger Haupttat aus. Es fehlt an der für die Teilnahme notwendigen Akzessorietät von der rechtswidrigen Haupttat (vgl. z.B. § 26 StGB). Die Notwehrprobe sowie die Möglichkeit strafbarer Teilnahme sind letztlich die Gründe für die differenzierte Einordnung der §§ 34 und 35 StGB im Verbrechensaufbau. In den Ausgangsfällen wären die Taten also entschuldigt, wenn § 35 StGB als Entschuldigungsgrund eingreifen würde.

Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes:

1. Eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit muss bestehen. Im Unterschied zu § 34 StGB werden ausschließlich diese Interessen als notstandsfähige Rechtsgüter anerkannt. Diese bewusste Beschränkung (absichtliche Lücke) verbietet eine analoge Anwendung auf andere Rechtsgüter (etwa Ehre oder angemessene wirtschaftliche Lebensgrundlage). Die Rechtsordnung mutet den Bürgern ansonsten die Inkaufnahme eigener Nachteile zu. Darüber hinaus muss es sich um eine nicht völlig unerhebliche Beeinträchtigung des Leibes handeln, wie der Vergleich mit dem Leben deutlich zeigt. Um einem Schnupfen zu entgehen, kann man eben nicht Regenschirme wegnehmen oder Häuser aufbrechen. Bezüglich der gegenwärtigen Gefahr wird auf die Ausführungen zu § 34 StGB Bezug genommen rechtfertigender Notstand. 2. Die Gefahr muss dem Täter, einem Angehörigen (Legaldefinition in § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder einer ihm nahestehenden Person drohen. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass es für den Täter in gleichem Maße unzumutbar ist, bei einer Lebens-, Leibes- oder Freiheitsgefahr für eine nahestehende Person Hilfe zu unterlassen, wie für sich selbst. Bei dem Kreis der nahestehenden Personen muss es sich allerdings – wie der Vergleich zu den Angehörigen zeigt – um auf Dauer angelegte zwischenmenschliche Beziehungen handeln wie homosexuelle männliche (schwule) oder weibliche (lesbische) Verhältnisse, eheähnliche Lebensgemeinschaften, der feste Freund, die feste Freundin, Kommunen. Nicht genügend sind andere Solidargemeinschaften, die diese Intensität nicht erreichen wie Klassengemeinschaften, Kegelclubs, Kollegen, Parteigenossen, Lehrer-Schüler, Professor-Stu-dent, ökonomische Wohngemeinschaften. 3. Die Gefahr ist nicht anders abwendbar (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – Grundsatz des mildesten Mittels). ( Notstand im StGB – rechtfertigender) 4. Dem Täter darf nicht zugemutet werden können, die Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit hinzunehmen (vgl. § 35 Abs. 1 S. 2 StGB sog. Zumutbarkeitsklausel). Diese Zumutbarkeit ist „namentlich“ (vom Gesetzgeber geliebtes Wort für „beispielhaft“) in folgenden Fällen gegeben: Der Täter hat die Gefahr verursacht (streitig, ob auch „schuldhaft“ erforderlich ist). Das wäre also im Beispiel 1 der Fall, wenn R den Steinschlag ausgelöst oder im Beispiel 2 S1 selbst den Flugzeugabsturz durch eine Explosion herbeigeführt hätte. Beim entschuldigenden Notstand zugunsten nahestehender Personen kommt es nach dem eindeutigen Wortlaut nur darauf an, ob der Täter selbst die Gefahr (schuldhaft?) verursacht hat, nicht aber, ob die Verursachung (Verschulden?) den Sympathieträger trifft. Hätte also im Taucherfall der Sohn den Lungenautomaten durch unsachgemäßes Bedienen oder gefährliche Tauchmanöver selbst funktionsuntüchtig gemacht, wäre V die Berufung auf § 35 StGB nicht versagt. Der Täter steht in einem besonderen Rechtsverhältnis. An dieser Alternative kann man erkennen, dass der Grund für diesen Entschuldigungsgrund nicht ausschließlich in der Unzumutbarkeit normgerechten Verhaltens bestehen kann. Denn es ist einem Feuerwehrmann, Polizisten, Piloten, Seemann, Bergwächter, Soldaten, Arzt, Krankenpfleger natürlich genauso wenig zuzumuten, Gefahren hinzunehmen, wie anderen Personen. Der Gesetzgeber hält aber die Schuld in diesen Fällen einer erhöhten Opfergrenze nicht unter die Schwelle strafwürdigen Verhaltens gedrückt, eine gesetzgeberische Entscheidung, die bei diesen Professionen sicherlich auf generalpräventiven Erwägungen beruht. 5. Als subjektives Element ist ein Rettungswille erforderlich, d.h. der Täter muss die Tat in Kenntnis der Notstandslage begangen haben, um die Gefahr abzuwenden („ um ... zu“). 6. Nimmt der Täter die Gefahr irrtümlich an, so ist zu unterscheiden: War der Irrtum vermeidbar, so wird der Täter bestraft; es besteht aber eine Milderungsmöglichkeit über §§ 35 Abs. 2 S. 2, 49 StGB. War der Irrtum unvermeidbar, erfolgt keine Bestrafung, § 35 Abs. 2 S. 1 StGB. Da die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 S. 1, 2 StGB in den Ausgangsfällen erfüllt sind, ist die Schuld der Täter nach dieser Bestimmung jeweils ausgeschlossen. Sie haben sich deshalb nicht nach § 212 StGB wegen Totschlags strafbar gemacht.