Teleologische Reduktion

Aus Jura Base Camp
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ist das Gegenstück zur Analogie und zum Umkehrschluss. Bei der Analogie ist der zu entscheidende Fall zwar nicht vom Wortlaut der Norm gedeckt, wohl aber von deren Normzweck. Der Tatbestand einer Norm wird erweitert. Beim Umkehrschluss wird der Fall vom Wortlaut der Norm nicht erfasst, und der Normzweck verbietet eine erweiternde Anwendung der Rechtsfolge auf ähnliche Fälle. Der Tatbestand einer Norm verbietet eine solche Erweiterung Bei der teleologischen Reduktion wird der Fall zwar vom Wortlaut erfasst, jedoch nicht vom Normzweck. Maßstab dieser Auslegung ist der objektive Zweck und das Ziel einer Norm (gr. télos, Zweck, Ziel), die mit einem Gesetz verknüpft sind. Im Zweifel sollte dieser Methode der Vorzug gegeben werden, wenn die anderen Auslegungsmethoden in verschiedene Richtungen weisen.

Beispiel: „Frauen müssen eine Badekappe tragen“, lautet ein Schild in einem Hallenbad.

Analogie: Männer werden zwar vom Wortlaut nicht erfasst, wenn sie aber langhaarig sind, gilt das Gebot entsprechend: Sie müssen eine Badekappe tragen. Umkehrschluss: Da es dem Normzweck offensichtlich um die Vermeidung langer Haare in den Filteranlagen geht, gilt das Gebot nur für Frauen, nicht für Männer. Männer müssen keine Badekappe tragen. Teleologische Reduktion: Wenn Frauen kurzhaarig sind, werden sie als „Frauen“ zwar vom Wortlaut erfasst, nicht aber vom Normzweck. Sie müssen keine Badekappe tragen. Die teleologische Reduktion wendet sich gegen den auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers beruhenden Gesetzeswortlaut. Mit der Reduktion beginnt deshalb der gefährliche Bereich, in dem Gesetzgeber und Gesetz durch die Judikative (Richter oder Rechtspfleger) korrigiert werden.

Beispiel 1: Vater Oskar Schmitz war Inhaber zweier Firmen: Unternehmen Blau und Unternehmen Rot. Er vererbte das Unternehmen Blau seinem Sohn Jupp Schmitz und das Unternehmen Rot seiner minderjährigen Enkelin Emma Schmitz, Tochter des Jupp Schmitz. Dementsprechend erfolgte die Auseinandersetzung. Unternehmen Blau hatte einen Anspruch i.H.v. 1 Million Euro gegen Unternehmen Rot aus Warenlieferungen gem. § 433 Abs. 2 BGB. Als sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens Rot dramatisch verschlechterte, wollte Jupp Schmitz die Schuldenlast von Unternehmen Rot vermindern. Er erließ der Emma Schmitz als Inhaberin von Unternehmen Rot die Schuld i.H.v. 1 Million Euro und erklärte zugleich namens seiner Tochter Emma Schmitz die Annahme des Erlasses. – Ist der Erlass wirksam?

Da der Schuldenerlass gem. § 397 Abs. 1 BGB durch Vertrag erfolgt, bedurfte das Angebot einer Annahme durch Emma. Emma wurde durch ihren Vater gem. §§ 164 Abs. 1, Abs. 3, 1629 Abs. 1 BGB vertreten. Die gesetzliche Vertretungsmacht könnte jedoch gem. §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB eingeschränkt gewesen sein.

Jupp Schmitz hat als Vertreter im Namen der Emma Schmitz mit sich im eigenen Namen einen Erlassvertrag abgeschlossen. Ein solches Rechtsgeschäft kann er grundsätzlich „nicht vornehmen“, d.h. insoweit hat er keine Vertretungsmacht – der Erlassvertrag wäre gem. § 177 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam (Insichgeschäft), § 181 BGB. Die beiden in § 181 BGB vorgesehenen Ausnahmen, Gestattung des Insichgeschäfts oder Rechtsgeschäft ausschließlich zur Erfüllung einer Verbindlichkeit, liegen nicht vor. Also wäre die Vertretungsmacht des Vaters über §§ 1795 Abs. 2, 181 BGB ausgeschlossen.

Beispiel 2: Vater Oskar Schneider möchte seinem 5-jährigen Sohn zu Weihnachten ein Dreirad schenken und übereignen. Kann er das überhaupt?

Da sowohl die Schenkung durch schuldrechtlichen Vertrag als auch die Übereignung gem. § 929 BGB u.a. durch dinglichen Vertrag (Einigung) erfolgen, bedurften die Angebote zur Schenkung und Übereignung seitens des Vaters auch einer Annahme durch den Sohn. Der Sohn wurde hier durch seinen Vater vertreten, so dass auch hier die nach § 1629 Abs. 1 BGB grundsätzlich bestehende Vertretungsmacht nach Maßgabe der §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB eingeschränkt gewesen sein könnte: Der Vater hat als Vertreter im Namen seines Sohnes mit sich im eigenen Namen einen Schenkungsvertrag und Übereignungsvertrag abgeschlossen. Solche Rechtsgeschäfte kann er grundsätzlich „nicht vornehmen“, d.h. insoweit hat er keine Vertretungsmacht gem. § 181 BGB. (Stellvertretung) Auch hier liegen die beiden in § 181 BGB vorgesehenen Ausnahmen nicht vor. Also wäre auch hier die Vertretungsmacht gem. § 181 BGB ausgeschlossen mit der Folge des § 177 Abs. 1 BGB.

Jetzt kommt die teleologische Reduktion ins Spiel: Möglicherweise ist nämlich § 181 BGB auf die beiden vorgegebenen Fälle 1 und 2 gar nicht anzuwenden. Die hier zu entscheidenden Fälle betreffen die Fallgruppe, dass das jeweilige Rechtsgeschäft dem Vertretenen lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt. Zu Fall 1: Durch den Schuldenerlass (§ 397 BGB) erlangt Emma Schmitz die Befreiung von der Verbindlichkeit, ohne dass dies mit irgendwelchen Nachteilen verbunden wäre. Zu Fall 2: Durch die schenkweise Übereignung des Dreirades (§ 929 S. 1 BGB) erlangt der Sohn Eigentum, ohne irgendeinem rechtlichen Nachteil ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die Vertreter als gesetzliche Vertreter tätig werden, so dass die sonst gegebene Möglichkeit, eine mit der Vollmacht verbundene stillschweigende „Gestattung“ anzunehmen, ausscheidet. Es ist daher zu prüfen, ob das Eingreifen des § 181 BGB nach der teleologischen Reduktion bei dieser Fallgruppe ausgeschlossen werden kann. Praktisch würde das bedeuten, dass von dem grundsätzlichen Verbot des § 181 BGB eine weitere dritte Ausnahme anzuerkennen wäre. Hierfür ist Voraussetzung, dass die beschriebene Fallgruppe nicht mehr vom Normzweck des § 181 BGB gedeckt ist. Nach dem Normzweck des § 181 BGB wird der Vertretene davor geschützt, dass der Vertreter ein Rechtsgeschäft zwischen sich und dem Vertretenen abschließt, obwohl möglicherweise ein Interessenwiderstreit zugrunde liegt und das Rechtsgeschäft deshalb den Vertretenen benachteiligen kann. Bei der hier gegebenen Fallgruppe hat das Rechtsgeschäft für den Vertretenen ausschließlich Vorteile. Es kann also überhaupt kein Interessenwiderspruch auftreten. Würde bei dieser Fallgruppe § 181 BGB angewandt, hätte das zur Folge, dass ein Schenkungsvertrag, ein Erlassvertrag oder eine Übereignung (oder ein anderes für den Vertretenen ausschließlich günstiges Geschäft) nicht wirksam würden, so dass das Interesse des Vertretenen gerade nicht geschützt, sondern beeinträchtigt würde. Bei einer Anwendung des § 181 BGB auf die hier gegebene Fallgruppe würde das Gegenteil von dem eintreten, was der Normzweck des § 181 BGB erreichen will. Weiterhin spricht für die Reduktion, dass § 181 BGB eine Ausnahmevorschrift ist, die durch eine Reduktion nur weiter eingeengt wird, so dass der Grundsatz der Vertretung wieder erweitert wird. Auch entspricht die Einengung dem in § 107 BGB zum Ausdruck gekommenen Gedanken, begünstigende Rechtsgeschäfte unter erleichterten Voraussetzungen wirksam werden zu lassen. Somit erfasst § 181 BGB nach der teleologischen Reduktion keine „Insichgeschäfte des Vertreters, die dem Vertretenen lediglich ei- nen rechtlichen Vorteil bringen“. (Dritte Ausnahme zu § 181 BGB.) In den Ausgangsfällen handelt es sich jeweils um solche Rechtsgeschäfte, sodass sie keinen Fall des § 181 BGB darstellen und daher beide wirksam sind.

Beispiel 3: Ein anderes Beispiel einer teleologischen Reduktion ist § 167 Abs. 2 BGB. Danach ist für eine Vollmacht die für das Rechtsgeschäft vorgesehene Form nicht notwendig, selbst dann nicht, wenn das vorzunehmende Rechtsgeschäft formbedürftig ist. Die Rechtsprechung hat nun im Wege der teleologischen Reduktion entwickelt, dass gegen den eindeutigen Wortlaut des § 167 Abs. 2 BGB eine Form auch für die Vollmacht notwendig ist, wenn sie als unwiderrufliche Vollmacht erteilt werden soll, da sich damit der Vollmachtgeber des ansonsten gem. § 168 S. 1 BGB möglichen Widerrufs begibt –, er also durch die „Form der Vollmacht“ geschützt werden muss.