Übergesetzlicher entschuldigender Notstand

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ist ein strafrechtliches Rechtsinstitut, das Fälle eines nahezu unlösbaren Gewissenskonflikts regelt! Es handelt sich um Situationen, in denen weder rechtfertigender Notstand gem. § 34 StGB eingreift noch entschuldigender Notstand gem. § 35 StGB zur Anwendung kommen kann, die Täter aber dennoch das „Verzeihen“ durch die Rechtsordnung verdienen.

Beispiele: Um einen Zusammenstoß mit einem vollbesetzten Personenzug zu vermeiden, stellt der Bahnangestellte die Weiche auf ein Nebengleis um, obwohl er weiß, dass auf ihm drei Kinder spielen. Diese werden überfahren.

Um in einem mit 20 Schiffbrüchigen überbesetzten Rettungsboot bei einem aufziehenden Sturm wenigstens die allenfalls zu rettenden 15 Passagiere an Land zu bringen, stößt der Steuermann 5 Passagiere in die tosende See, in der sie ertrinken.

KZ-Arzt Dr. M sucht die 80 schwersten Fälle von Geisteskranken in seiner Krankenstation aus, um sie im KZ töten zu lassen. Damit will er möglichst 300 andere Kranke retten, die bei einer völligen Weigerung seitens des Dr. M durch andere skrupellose Ärzte, die an seine Stelle getreten wären, sämtlich in den Tod geschickt worden wären. Der Düsenjetpilot Oberleutnant Hinz schießt mit seiner Bordkanone die mit 300 Passagieren besetzte Lufthansamaschine ab, die von Terroristen als Waffe benutzt auf den mit 10.000 Besuchern gefüllten Kölner Dom gesteuert wird.

§ 35 StGB greift nicht ein, weil die Gefahr nicht dem Täter oder einem Angehörigen droht bzw. § 35 S. 2 StGB eingreift. § 34 StGB greift nicht ein, weil Leben gegen Leben kollidiert. Durch § 34 StGB ist es auch nicht gerechtfertigt, wenn durch die Handlung eine größere Zahl von Menschen gerettet wird als die Zahl der möglichen Todesopfer beträgt (quantitativer Notstand), weil jedes Leben für unsere deutsche Rechtsordnung einen absoluten, nicht überschreit-baren Höchstwert darstellt („Menschenleben sind nicht addierbar“). In diesen Extremfällen, in denen der Täter vor die Wahl gestellt ist, entweder dem Schicksal seinen Lauf zu lassen und dadurch „mitschuldig“ zu werden am Tod der Mehrzahl, oder aber zu handeln und danach den Tod der Minderzahl verantworten zu müssen, greift nun, weil jede Strafe, auch ihr Mindestmaß, eine grobe Ungerechtigkeit wäre, ein sog. übergesetzlicher entschuldigender Notstand in Anlehnung an § 35 StGB ein. Dieser muss jedoch auf ganz besondere und eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben, quasi die Ultima ratio unserer Rechtsordnung sein, da er den Prinzipien des Art. 20 GG widerstreitet. (Entschuldigungsgründe)