Entgegen der Regel, dass die Tatbestandserfüllung die ➞ Rechtswidrigkeit indiziert, indiziert hier ausnahmsweise die Tatbestandserfüllung die Rechtmäßigkeit, es sei denn, es greift ein Rechtswidrigkeitsgrund ein in Form der Verwerflichkeit der Zweck-Mittel-Relation (vgl. § 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB).
- Beispiel 1: Oberstudienrat Maier erklärt Max: „Wenn du nicht deine Hausarbeiten machst, schreibst du eine Stunde: „Ich muss meine Hausaufgaben machen.“
- Beispiel 2: Ehefrau Emma Schulz erklärt ihrem Moritz: „Wenn du nicht mit dem Trinken aufhörst, ziehe ich aus dem Schlafzimmer für immer aus.“
- Beispiel 3: Geschäftsführer Huber erklärt dem Jupp: „Wenn Sie nicht ab sofort pünktlich sind, werde ich Sie entlassen.“
In sämtlichen Fällen erfüllen die Erklärenden den Nötigungstatbestand des § 240 Abs. 1 StGB, indem sie jeweils ein empfindliches Übel androhen. Und doch handeln alle drei ersichtlich nicht rechtswidrig. Die Regel, dass mit Erfüllung des Tatbestandes auch die Rechtswidrigkeit vorliegt, wird hier zur Ausnahme. Der Tatbestand des § 240 StGB ist aufgrund seines Wortlautes so „weit“ gefasst, dass sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis umdreht. Bei den tausendmal täglich vorkommenden tatbestandsmäßigen Nötigungshandlungen (… wenn du nicht, dann …) versagt die Regel und kehrt sich in ihr Gegenteil: Eine Nötigungshandlung ist rechtmäßig, es sei denn, die Rechtswidrigkeit wird positiv festgestellt.
Also: Bei ➞ geschlossenen Tatbeständen gilt: Die Tatbestandserfüllung indiziert die Rechtswidrigkeit, es sei denn … Bei offenen Tatbeständen gilt: Die Tatbestandserfüllung indiziert die Rechtmäßigkeit, es sei denn …
Liegt bei den offenen Tatbeständen kein allgemeiner Rechtfertigungsgrund vor wie z.B. Notwehr oder Notstand, so ist im Wege einer Gesamtbewertung nach § 240 Abs. 2 StGB, der eine Rechtswidrigkeitsregel bildet, zu ermitteln, ob im konkreten Einzelfall das eingesetzte Mittel oder der erstrebte Zweck für sich jeweils rechtswidrig oder das eingesetzte Mittel zu dem erstrebten Zweck verwerflich ist.