Im BGB sind in den §§ 228 und 904 BGB zwei unterschiedliche Notstände geregelt. Während man § 228 BGB seinen rechtfertigenden Charakter sofort ansieht, gelingt dieser Schluss bei § 904 BGB erst durch folgende Überlegung: Wenn der Eigentümer unter bestimmten Voraussetzungen nicht berechtigt ist, die Einwirkung auf seine Sache zu verbieten, dann handelt derjenige nicht wider das Recht (rechtswidrig), der dies tut. Die §§ 228, 904 BGB sind spezielle Ausprägungen des dem Notstandsrecht zugrunde liegenden Güter-abwägungsprinzipes speziell für Sachbeschädigungen (§ 303 StGB) und gehen dem § 34 StGB vor, nach dem Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“ (lat.: das spezielle Gesetz verdrängt das allgemeine Gesetz). (➞ Verdrängungsregeln)
Beispiel: Der Rentner Hein Abel lässt unbedacht seinen bissigen Hund „Hades“ auf der Straße frei herumlaufen. Der Hund fällt den 5-jährigen Moritz an. Das sieht die Stenotypistin Resi Schmitz, die gerade vor einem Blumenstand steht. Sie ergreift den erstbesten Blumentopf – zufällig sind es wertvolle Orchideen – und wirft ihn dem Hund an den Kopf, um den schon blutenden Jungen vor schwereren Verletzungen zu bewahren. Den „Volltreffer“ überleben weder der Hund noch die Pflanzen; doch der Junge ist gerettet.
- Strafbarkeit der Resi Schmitz durch Töten des „Hades“
- In Betracht kommt eine Sachbeschädigung gem. § 303 Abs. 1 StGB.
- Eine Sache ist jeder körperliche Gegenstand (§ 90 BGB), also auch ein Hund (§ 90 a BGB).
- Der Hund „Hades“ gehört Hein Abel, ist also für Resi Schmitz eine fremde Sache.
- Eine Sache ist zerstört, wenn sie ihre Substanz oder ihre bestimmungsgemäße Brauchbarkeit völlig eingebüßt hat. Das ist bei einem toten Hund der Fall.
Die Tötung des „Hades“ verwirklicht daher das „Zerstören einer fremden Sache“, also hat Resi Schmitz den Tatbestand des § 303 Abs. 1 StGB erfüllt.
- Die Tatbestandserfüllung indiziert die Rechtswidrigkeit, es sei denn, es liegt ein Rechtfertigungsgrund vor.
- Notwehr gem. § 32 Abs. 1, 2 StGB? Ein Angriff ist jede von einem Menschen drohende Beeinträchtigung rechtlich geschützter Interessen. Die bloße Tierattacke ist kein Angriff. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Hund auf einen Menschen gehetzt wird. Dann ist der Hund das Werkzeug eines angreifenden Menschen. Hier ließ Abel den Hund frei laufen; das ist kein Angriff.
- Notstand gem. § 228 BGB?
- · Eine gegenwärtige Gefahr droht durch eine Sache. Moritz ist von „Hades“, einer Sache, bereits gebissen worden. Offenbar stehen weitere Bisse bevor. Seiner körperlichen Integrität, evtl. sogar seinem Leben, droht somit eine gegenwärtige Gefahr.
- · Einwirkung objektiv erforderlich? Da der Sachverhalt nicht erkennen lässt, ob Resi den Hund auf andere Weise hätte vertreiben können (Stein, Stock, Fußtritte), ist „in dubio pro reo“ davon auszugehen, dass die dem Moritz drohende Gefahr nicht anders abwendbar war als eben durch den Wurf mit dem Orchideentopf.
- · Güter- und Interessenabwägung. Es ist zwischen körperlicher Integrität bzw. Leben (Erhaltungsgut) und dem Eigentum (Eingriffsgut) abzuwägen. Schon ein Vergleich der Rechtsgüter im Lichte des Grundgesetzes ergibt, dass die körperliche Integrität die materiellen Interessen des Hundeeigentümers wesentlich überwiegt. Dies gilt nun um so mehr, als Moritz weitere erhebliche Verletzungen drohen. Der Schaden an dem Hund steht auch nicht außer Verhältnis zu dem Schaden aus der Gefahr.
- · Rettungswille? Resi will Moritz vor Ärgerem bewahren. Sie handelt also mit Rettungswillen. Da Resi selbst nicht bedroht ist, liegt ein Fall der rechtfertigenden Notstandshilfe vor.
- § 34 StGB ist wegen der Spezialität des § 228 BGB nicht mehr zu erörtern.
- Die Tötung des „Hades“ durch Resi Schmitz ist also durch Notstand gem. § 228 BGB gerecht-fertigt. Diesen Notstand nennt man auch „Defensivnotstand“.
- Strafbarkeit der Resi Schmitz durch die Vernichtung der Orchideenpflanzen
- In Betracht kommt wiederum eine Sachbeschädigung gem. § 303 Abs. 1 StGB.
- Topf und Pflanzen gehören dem Inhaber des Blumenstandes Rose, sind damit für Resi fremde Sachen.
- Von dem Orchideentopf sind nur noch Scherben und Pflanzenreste übrig, die für den Eigentümer nicht mehr brauchbar sind. Also ist der Blumentopf zerstört. Das Vernichten des Orchideentopfes erfüllt daher auch hier den Tatbestand des § 303 Abs. 1 StGB.
- Die Indizfunktion des Tatbestandes könnte durch den Rechtfertigungsgrund des Notstandes gem. § 904 BGB beseitigt sein.
- Eine gegenwärtige Gefahr droht Moritz, wie bereits oben näher ausgeführt.
- Auch hier ist die Einwirkung auf den Blumentopf objektiv erforderlich.
- Auch die Interessen- und Güterabwägung ergibt, dass die Interessen des Moritz wesentlich überwiegen.
- Für den Rettungswillen gilt dasselbe wie zuvor.