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Rechtsordnung

ist das System, in dem das ➞ Recht „geordnet“ ist. Sie ist die Einheit der aufeinander abgestimmten Regeln eines Rechtsstaates zur Schaffung von Recht.

Unser Rechtsstaat umfasst eine Unmenge von Gesetzen! Schaut man sie an, geht es einem fast so wie es einem des Nachts auf Mallorca ergeht, wenn man in den sternenübersäten Himmel blickt, um zu träumen oder nach Sternschnuppen Ausschau zu halten. Eine Unmenge von Sternen! Würde man jemandem am nächsten Morgen die Frage stellen, was er am Abend zuvor oder in der Nacht bei seinem Blick in den Nachthimmel gesehen hat, würde er den Frager entrüstet anschauen: „Kein Mensch kann dir diesen Himmel beschreiben!“ Und doch! Kluge Griechen haben schon vor 2500 Jahren versucht, diesen Himmel zu ordnen, indem sie Einzelsterne zu Sterngruppen und Sterngruppen zu Sternbildern zusammengefasst, sie nach ihren Göttern benannt und so ganz allmählich den gestirnten Himmel in Reih und Glied gebracht und geordnet haben (lat.: ordinare, das heißt in Reih und Glied bringen; ordnen).

Auch wir müssen versuchen, unseren „gestirnten“ Gesetzeshimmel in Reih und Glied zu bringen, indem man Gesetzesbilder und Gesetzesgruppen schafft und sie benennt.

Sie haben sich mit dem Beginn Ihres Studiums auf diesen Sternenhimmel der Gesetze eingelassen und stellen nun beunruhigt fest: „Welche unendliche Vielzahl!“ Seien Sie beruhigt: Hinter der Vielheit von „Recht und Gesetz“ steht eine Einheit, die einfacher ist als ihre Vielheit. Diese systematische Einheit, in der das Recht geordnet ist, gilt es zunächst, sichtbar zu machen. Wir nennen sie: die Rechtsordnung.

Beispiel: Der angetrunkene Max stößt mit seinem Wagen unter Missachtung der Lichtsignalanlage („Juristen“ sagen so; „Menschen“ sagen Ampel) mit dem Auto des Moritz auf der Kreuzung zusammen. Moritz ist schwer verletzt und muss ins Krankenhaus.

 

Versuchen wir zunächst einmal, einige wenige Fragen aus der Unsumme möglicher „rechtlicher“ Fragen herauszuarbeiten, die mit diesem doch täglich vorkommenden Fall zusammenhängen können.

  • Muss Max Krankenhauskosten zahlen?
  • Muss Max Schmerzensgeld leisten?
  • Wie steht es mit Verdienstausfall?
  • Wer zahlt die Reparaturkosten für das Fahrzeug?
  • Muss Max sich entschuldigen?
  • Muss Max Moritz im Krankenhaus besuchen?
  • Hat Max sich strafbar gemacht?
  • Verliert Max seine Fahrerlaubnis?
  • Wer muss den Unfall aufnehmen?
  • Warum gibt es überhaupt Verkehrsregeln?
  • Wer erlässt sie?
  • Vor welchen Gerichten muss Moritz seine Schäden einklagen?
  • Was sind seine Anspruchsgrundlagen?
  • Wie führt man einen Zivilprozess?
  • Wie funktioniert die Vollstreckung?
  • Wer setzt eine mögliche Strafe fest?
  • Wer führt den Strafprozess und nach welchen Regeln?
  • Wer erbt, wenn Moritz versterben sollte?

 

Dies ist ein kleiner Ausschnitt aus der Gesamtheit der rechtlichen Beziehungen, die sich aus dem Zusammenleben aller Menschen in Gesellschaft, Staat, Ehe, Familie und Beruf ergeben – ein ganz normaler Autounfall!  Dieses Füllhorn voller Fragen, dieser unermessliche Reichtum des Rechtsstoffes muss für den Juristen beherrschbar werden. Hinter der Vielheit der Fragen steht eine Ordnung, eine Rechtsordnung nämlich, die irgendwann, irgendwo auf der Welt ihren Ausgangspunkt nahm.

Im Anfang der Menschheit bestimmten sicherlich ausschließlich der rhythmische Wechsel der Jahreszeiten und der von Licht und Dunkel das äußere Leben der Menschen. Mit Sonnenaufgang begann die Möglichkeit und zugleich die Notwendigkeit zum Handeln – zur Nahrungssuche, Jagd, Geselligkeit, zum Raub, zur Lebenssicherung und immer zur Vermehrung. Mit Sonnenuntergang trat diese Möglichkeit wieder zurück und machte der Notwendigkeit Platz, sich gegen die Gefahren der Nacht zu sichern. Der Mensch sah sich den Unbilden der Natur und der Feindschaft der Tiere viel stärker ausgeliefert als irgendein anderes Wesen sonst. So wurde ihm auch immer wieder die Erfahrung bestätigt, dass der Einzelne nichts, die Gemeinschaft jedoch für ihn Existenzvoraussetzung ist. Er wuchs mit den anderen Menschen fest zusammen, jagte und fischte, schützte, verteidigte und griff im Verband an. Der Gattungsgenosse Mensch wird als Feind 100.000 Jahre lang keine besonders wichtige Rolle gespielt haben, denn die Zahl dieser Gattungsgenossen war klein, und schwerer als die persönliche Feindschaft wog die gegenseitige Abhängigkeit. Ein soziales Gefälle und die für unsere Zeit so wichtigen Fragen nach dem „Wem gehört was?“ und „Was darf man?“ und „Was darf man nicht?“ gab es noch nicht. Jedem „gehörte“ die ganze unendliche Welt, die ganze Quelle, der ganze Wald, das ganze Feld, der ganze Fluss, jeweils mit allen Früchten und Schätzen. Sogar der Kampf um den Besitz einer Frau spielte noch keine Rolle. Denn es gab keine Ehe, sondern es bestand stattdessen die wechselnde Geschlechtsgemeinschaft aller Mitglieder einer Gruppe, Sippe, Rotte oder eines Stammes untereinander: Jede Frau war die Liebespartnerin jeden Mannes und umgekehrt. Niemand kannte seinen Vater. Der männliche Schutz des Kindes lag in den Händen des Bruders der Mutter, des berühmten Oheims. Familien‑, erb-, sachen-, schuld- oder gar gesellschaftsrechtliche Fragen stellten sich nicht.

Doch dann, eines schönen Tages, ereignete sich der „Big Bang“ des Rechts: Einer oder eine unserer Vorfahren stellte seine Frau oder ihren Mann nicht mehr zur allgemeinen Verfügung. Jemand beanspruchte das Wild für sich allein. Irgend jemand kam auf die Idee, seine Höhle als „Eigentum“ für sich zu deklarieren. Das war die Geburtsstunde des Rechts, sein Urknall.

Es gab also irgendwann einmal in grauer Vorzeit zwei Ahnen, die um irgendetwas – eine Frau, eine Höhle, ein erlegtes Wild – gestritten haben. Nachdem der Zweikampf als ein für den körperlich Unterlegenen untaugliches Mittel verworfen worden war und man den Gottesurteilen wegen ihrer Zufälligkeiten immer skeptischer gegenüberstand, entschied sich der archaische „Gesetzgeber“ nach Häufung unterschiedlicher Streitfälle auf unterschiedlichen Gebieten, zur Schaffung von generalisierenden, vom Einzelfall losgelösten Regeln und für die Anwendung dieser Regeln auf sämtliche gleich gelagerten Fällen. Das waren die ersten ➞  Gesetze! Waren die damaligen Streitfälle und Konflikte im Vergleich zu unseren heutigen noch primitiv, so ändert das nichts am Grundsätzlichen: Die Sachverhalte und das in ihnen enthaltene Tatsachenmaterial waren und sind die faktischen Grundlagen für das Programm einer Recht „setzenden“ Rechtsordnung, damals wie heute, und sie sind, damals wie heute, Anlass für die Anwendung und Bewährung der Rechtsordnung. Irgendein Konflikt zwischen zwei Menschen war also irgendwann irgendwo auf der Welt der Ausgangspunkt für die Erschaffung einer Rechtsordnung.

Solche Konflikte sind Dreh- und Angelpunkt der gesamten ➞ Juristerei. Ohne sie gäbe es keine abstrakten Rechtsnormen und keine konkrete Anwendung derselben, die Frage nach einer Ordnung des Rechtsstoffes – einer „Rechts-Ordnung“ – stellte sich nicht. Um dieses erste „Ur-Konflikt-Sandkorn“ sammelte sich im „Rechts-Strom“ der Jahrhunderte innerhalb einer Gemeinschaft eine riesige Sandbank aus Riten, Regeln, Traditionen, Gewohnheiten, Sitte, Religion, ➞ Moral, Gesetzen und Paragraphen, die zuerst von Priestern, Medizinmännern, Vogelschauern, Orakeln und Druiden, später von Dorfältesten, dann von Richtern und Rechtspflegern zunächst in Zweikämpfen, dann in Gottesbeweisen und Landfrieden, später in Urteilen und Beschlüssen angewendet wurden. Die Fülle dieser gewordener Gesetzesregeln musste überschaubar gemacht werden! Wissenschaftliche Gesichtspunkte sind im Laufe der  ➞ Rechtsgeschichte entwickelt worden, um den Stoff „Recht“ in „Reih und Glied“ zu bringen, ihn zu „ordnen“. Das Ergebnis dieser geistigen Arbeit steht vor Ihnen: unser Recht in unserem Rechtssystem.

Bevor wir dieser Rechtsordnung zu Leibe rücken, verweilen wir noch einen Augenblick bei Max und Moritz. Wie wird ihr Konflikt gelöst? Das Faustrecht ist, gottlob, abgeschafft. Ein moderner Staat muss deshalb Rechtsregeln zur Verfügung stellen, um Streitfälle im menschlichen Zusammenleben auf andere Weise als durch die Fäuste zu lösen. Solche Rechtsregeln sind in Gesetzen niedergelegt. Sie sind die kleinsten Einheiten der Rechtsordnung. Das konkrete Einzelgesetz ist der Ausgangspunkt für die Herangehensweise an und das Denken und Arbeiten innerhalb einer Falllösung, zu deren weiterer Entfaltung und Präzisierung dann andere Gesetze aus der Rechtsordnung eine Rolle spielen können.

Konkret könnten sich folgende Fragen an die Rechtsordnung stellen:

  • Kann Moritz Ersatz für die Krankenhauskosten und die zerrissene Kleidung verlangen? Ja, § 823 Abs. 1 BGB (materieller Schaden)!
  • Wie steht es um Schmerzensgeld? Ja, § 253 Abs. 1, 2 BGB (immaterieller Schaden)!
  • Kann Max bestraft werden? Ja, § 24 StVG; §§ 315 c, 229 StGB!
  • Droht ihm ein Führerscheinentzug? Ja, § 69 StGB!
  • Droht ihm ein Fahrverbot? Ja, § 44 StGB, § 25 StVG!
  • Wo ist bestimmt, dass die Polizei kommen und den Unfall aufnehmen muss? In speziellen Polizeigesetzen der Bundesländer!
  • Wer entscheidet, ob die zivilrechtlichen Ansprüche bestehen? §§ 23, 71 GVG – Zivilgerichte als Amts- oder Landgerichte je nach Streitwert!
  • Wer entscheidet, ob sich Max strafbar gemacht hat? §§ 24, 25, 74 GVG – Strafgerichte mit den Eingangs-Instanzgerichten Amts- und Landgericht je nach der Höhe der Straferwartung!
  • Wie läuft die gerichtliche Feststellung des Schadenersatzes? Nach dem Erkenntnisverfahren der ZPO – die am Ende stehende „Erkenntnis“ ist das Urteil: Klageabweisung oder Klagezuspruch!
  • Wie läuft die gerichtliche Feststellung der Strafe? Nach dem Erkenntnisverfahren der StPO mit dem Urteilstenor: Freispruch oder Verurteilung zu Geld- oder Freiheitsstrafe!
  • Wie kommen die Gesetze überhaupt zustande? Nach Art. 76-82 GG!

 

 

Sie erkennen in diesem juristischen Durcheinander schon schemenhaft eine gewisse Ordnung von Gesetzen:

  • Gesetze, die Ansprüche regeln: §§ 823, 253 Abs. 1, 2 BGB
  • Gesetze, die allgemeine Verhaltensregeln festsetzen, die also verhindern sollen, dass es überhaupt zu solchen Störungen kommt (§§ 229, 315 c StGB, 24 StVG)
  • Gesetze, die die Strafbarkeit eines Tuns festlegen (StGB)
  • Gesetze, die die Kompetenzen und Aufgaben der Polizei feststellen (Polizeigesetze, StPO)
  • Gesetze, die die Organisation und Zuständigkeit der Gerichte regeln (GVG)
  • Gesetze, die bestimmen, in welchem „Prozedere“ (lat.: „das Zu-Werke-Gehen“) die Gerichte ihre Entscheidungen treffen und diese durchsetzen (StPO, ZPO)
  • Gesetze, die „Nebenfolgen“ regeln (§§ 44, 69 StGB, 25 StVG)
  • Gesetze, die regeln, wie Gesetze überhaupt zustande kommen (Grundgesetz)

 

Schaut man sich die zu „Gesetzesbündeln“ verdichteten „Fragen an die Rechtsordnung“ nun etwas genauer an, so stellt man Erstaunliches fest. Zwischen allen Gesetzen gibt es nur eine große abstrakte Unterscheidung:

 

  • Entweder die Gesetze betreffen das Verhältnis zwischen „Bürger Max“ und „Bürger Moritz“.
  • Oder aber sie betreffen das Verhältnis des „Staates“ gegen „Bürger Max und Bürger Moritz“ bzw. umgekehrt „Bürger Max und Bürger Moritz“ gegen den „Staat“.

 

Die schwer überschaubare Rechtsordnung, d.h., die Einheit aller aufeinander abgestimmten Rechtssätze eines Staates zur Schaffung von Recht, zerfällt in zwei Hälften. Davon nennt man traditionell die eine Hälfte: Privatrecht – die andere Hälfte: öffentliches Recht.

  • Privatrecht ist der Teil der Rechtsordnung, der die rechtlichen Beziehungen der einzelnen Bürger auf der Stufe der Gleichordnung untereinander in Ehe, Familie, Beruf und Gesellschaft regelt.

 

  • Öffentliches Recht dagegen ist der Teil der Rechtsordnung, der die Organisation des Staates, die Befugnisse und Aufgaben der Organe des Staates und das Verhältnis Staat gegen Bürger und Bürger gegen Staat regelt.

Daneben gibt es noch den gesetzlich nicht fixierten, außerrechtlichen Bereich von Sitte, Moral, Anstand und Höflichkeit. Dass Max sich bei Moritz entschuldigen oder ihn im Krankenhaus besuchen sollte, ist rechtlich nicht erzwingbar, sondern kann allenfalls als ein Akt des Anstandes und der Höflichkeit verlangt werden. Ob Max „Gewissensbisse“ hat und sich schlecht fühlt oder ob es ihn innerlich nicht berührt, „kalt“ lässt, ist eine Frage nach seiner Moral.

Die gewaltige Rechtsgalaxie, die sich aus dem „Urknall“ des ersten Streitfalles unserer zwei Steinzeitmenschen entwickelt hat, hat also zwei große Sonnensysteme. Sie drehen sich entweder um die Zentralachse Bürger gegen Bürger oder um die Achse Staat gegen Bürger.

Die Frage, die sich jetzt aufdrängt, ist: Nach welchen Kriterien erfolgt die Differenzierung von Privatrecht und öffentlichem Recht?

Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht anhand folgender Fragen vorgenommen:

  • Gestalten sich die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten nach dem Verhältnis von Über- und Unterordnung oder auf der Stufe der Gleichordnung? (Subordinationstheorie)
  • Sind die betroffenen Gesetze im Allgemeininteresse oder im Individualinteresse des einzelnen Bürgers erlassen? (Interessentheorie)
  • An welches Subjekt (Adressat) wendet sich das Gesetz: an die staatlichen Hoheitsträger oder an den einzelnen Bürger? (Adressaten-Subjektstheorie)

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