Die drei wichtigsten GegenstĂ€nde zum Jurastudium sind nun einmal fĂŒr den Jurastudenten: Gesetze, Gesetze, Gesetze, in denen das Recht als Zeitgeist fixiert ist
Das Gesetz ist der SouverĂ€n in unserem Staat. Es hat nach Jahrtausenden der WillkĂŒrherrschaft durch von âGottâ eingesetzte Monarchen und selbst ernannte Diktatoren die demokratische Macht ĂŒbernommen. Was es mit ihm auf sich hat, muss wissen, wer es als Jurastudent mit ihm aufnehmen will. WĂ€hrend Moses noch mit 10 Gesetzen auskam, benötigt der Jurastudent das Zigfache, allein im BGB 2385 Paragrafen! Aber seien Sie beruhigt: Auch hier gilt die Weisheit: Hinter der Vielheit der Gesetze steht eine Ordnung, die einfacher ist als ihre Vielheit. Alle Gesetze sind nĂ€mlich miteinander verwandt. Wir werden die Verwandtschaft jetzt kennen lernen.
Die harte Arbeit am und mit dem Gesetz ist eine Erkenntnis, die sich fĂŒr einen Juristen von selbst verstehen sollte. Die Gesetze sind die Einzelteile unserer Rechtsordnung. Der Umgang mit dem Gesetz und dem sich in ihm spiegelnden Fall ist der Dreh- und Angelpunkt der Juristerei. Wer im 1. Semester anfĂ€ngt, sollte möglichst schnell mehr und mehr an und mit diesen Gesetzen lernen, bevor er in professorale Meinungsstreitereien verfĂ€llt, Literatur- und Rechtsprechungsansichten âgesetzlosâ gegenĂŒberstellt und mit vorgegebenen Argumentationen abgleicht. Das Gesetz ist kein leidiger Zusatztext zu juristischen Streitereien zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung in ellenlangen BĂŒcherregalen. Das Gesetz ist immer (!) der Ausgangstext, es ist das A und O der Juristerei. Seine gewissenhafte LektĂŒre mag aufwendig sein, stets ist sie unverzichtbar.
Versuchen Sie es immer erst einmal selbst mit dem Gesetzestext, ehe Sie zu Kommentaren greifen. Sie mĂŒssen dabei gerade in Ihrem ersten Semester ganz im Gegensatz zu Ihren âVorlesernâ ein uneingeschrĂ€nktes Vertrauen in die prinzipielle Erkennbarkeit der Gesetze entwickeln. Sie mĂŒssen sich den Gesetzgeber als âvernĂŒnftigâ denken, womit dieselbe Vernunft logischerweise auch in den gesetzgeberischen Schöpfungen allgegenwĂ€rtig sein muss â eben in seinen Gesetzen. Im Gebrauch Ihrer eigenen Vernunft werden Sie folglich am gesetzgeberischen Willen teilnehmen, an einer grundsĂ€tzlich der Vernunft zugĂ€nglichen Welt. Wir werden gleich gewisse juristische Auslegungsmethoden entwickeln, um diese Welt zu entschlĂŒsseln, sozusagen der Vernunft etwas auf die SprĂŒnge zu helfen. Die Gesetze sind keine tote Materie. Sie mĂŒssen die Gesetze eben zum Leben bringen. Setzen Sie auf die gesetzgeberische und Ihre eigene Vernunft! SpĂ€ter, wenn Ihr Fundament fest steht, können Sie das Zutrauen einschrĂ€nken und die Juristen mit ihren Gesetzen kritischer hinterfragen, dabei aber niemals Ihr Vertrauen verlieren.
Wurden im Anfang diese âGesetzeâ noch kraft Gewohnheitsrechts von Generation zu Generation mĂŒndlich âtradiertâ, so Ă€nderte sich das mit der Erfindung der Buchdruckkunst gewaltig. Das âGesetzbuchâ war bald das Buch, das alle bisherigen Gewohnheitsrechte ersetzte. Die âRechteâ schrumpften zusammen auf papierene Paragraphen zwischen zwei Buchdeckeln. Buch und Gesetz waren eins! â Was im Buch stand, war Gesetz! âAber in unserer modernen Zeit leider nur fĂŒr einen Moment. Buch und Gesetz leben nĂ€mlich nur jeweils eine juristische Sekunde untrennbar zusammen. Danach driften sie wieder auseinander. Das Gesetz bleibt im Buch, seine Bedeutung zieht weiter. Immer wenn ein Gesetz eine Diskussion beenden soll, schafft sie gerade durch diese Operation eine neue Diskussion. Das Gesetz lĂ€sst sich eben durch ein Gesetzbuch nicht stillstellen! Schon am Tag des Inkrafttretens treten nĂ€mlich Deuter, Urteiler, Ausleger, ErklĂ€rer in Gestalt von Richtern, Rechtspflegern, AnwĂ€lten und Professoren auf den Plan und fĂŒgen dem jeweiligen Gesetz-âBuchâ AufsĂ€tze, Urteile, BeschlĂŒsse, Kommentare hinzu, die sich zu neuen âBĂŒchernâ auswachsen, die man dann die âJuristische Literaturâ und die âRechtsprechungâ nennt und aus denen irgendwann wieder neue Gesetze werden.
Alle Gesetze stammen aus dem Bereich der sog. normativen Gesetze. Bei den normativen (lat.: norma, Richtlinie; frei ĂŒbersetzt: als Richtschnur dienend) Gesetzen unterscheidet man zwischen:
- juristischen Gesetzen und
- moralischen Gesetzen.
In beiden Arten wird eine âRichtschnurâ fĂŒr menschliches Verhalten formuliert, zu deren Einhaltung die Menschen verpflichtet sind. WĂ€hrend bei âjuristischen Gesetzenâ nur das Ă€uĂere Verhalten vorgeschrieben wird nach den Kategorien âgesetzesgemĂ€Ăâ und âgesetzeswidrigâ, beziehen sich âmoralische Gesetzeâ auf die innere Haltung gegenĂŒber den Handlungskategorien von âgutâ und âböseâ. VerstöĂe gegen juristische Gesetze werden von staatlichen Instanzen geahndet. Die Einhaltung moralischer Gesetze ist staatlich nicht erzwingbar. Die juristischen Gesetze gehören zu dem groĂen Bereich des Rechts, moralische Gesetze zu dem der Sitte und Ethik.
Man sieht sich im Bannkreis dieses Themas âGesetzeâ oft gezwungen, fĂŒr Erstsemestler auf Offenkundiges hinzuweisen: Der Umgang mit der Hauptliteratur im Jurastudium, das sind nĂ€mlich die Gesetze, wird am Anfang zu wenig mit ihnen geĂŒbt! Die Hilfsliteratur, die LehrbĂŒcher und Kommentare, haben leider oft schon zu Beginn der juristischen Ausbildung viel zu schnell die Lufthoheit ĂŒber den juristischen Lehr- und LernstĂŒhlen erobert.
Der Student lernt sein Ur-Handwerkszeug, das Gesetz, nicht richtig kennen! Die Arbeit am Gesetz und mit dem Gesetz wird in der Ausbildung vernachlĂ€ssigt! Nicht von der Literatur zum Gesetz, sondern vom Gesetz zur Literatur, muss der Ausbildungsweg fortschreiten. ZunĂ€chst mĂŒssen
â sein programmatischer Aufbau studiert,
â die âipsissima verbaâ, die âureigenen Worteâ, des Gesetzes, seine Tatbestandsmerkmale, geklĂ€rt werden,
â seine Auslegung trainiert,
â das Definieren geĂŒbt
â und der Umgang mit ihnen im Gutachten am Fall geĂŒbt werden,
ehe man sich in juristischen Theorien und Meinungsstreitereien verliert. Die Studenten sind bei einem solchen Vorgehen ohnehin lĂ€ngst auf der Strecke geblieben. Auch die schönste âMeinungâ Ihres Professors muss es nun mal ertragen, dass das Gesetz existiert. Nur das Gesetz verfĂŒgt ĂŒber die AuthentizitĂ€t, die Echtheit â alles andere ist Beiwerk. Die Lehrmeinung muss sich an die Wirklichkeit des Gesetzes anpassen, nicht das Gesetz an die juristische Lehrmeinung. Lex est rex in terra iuris: Das Gesetz ist der König in Jurististan!
In der Klausur haben Sie nur dieses âChamĂ€leon Gesetzâ zur Hand, das nimmt Ihnen niemand weg! Es ist der Anker fĂŒr Ihr juristisches GedĂ€chtnis. âIch habe die Lösung der Klausur nicht im Gesetz gefunden! Sie muss doch irgendwo stehen!â Ja, tut sie! Sie haben aber leider das Gesetz nicht richtig gelesen! Und nur, wer schon beim Lernen mit dem Gesetz arbeitet, findet sich auch in der Klausur darin gut zurecht.
Ganz wichtig ist es, frĂŒh zu erkennen, dass jedes Gesetz einen doppelten Körper hat: einen sichtbaren und einen unsichtbaren. Den sichtbaren reprĂ€sentiert der Wortlaut, er erschlieĂt sich durch die Auslegung und mĂŒndet in eine Definition. Der unsichtbare weist auf sein Ziel hin, das tĂ©los. Sie mĂŒssen sich zunĂ€chst immer fĂŒr die Seiten der Gesetze interessieren, die sie Ihnen Wort fĂŒr Wort zuwenden, aber sehr bald auch fĂŒr die, die sie Ihnen hinter ihren Wörtern verbergen.
Die Grundlagen fĂŒr den Umgang mit der Gesetzesarbeit mĂŒssen Sie im ersten Semester legen, da Sie von der Schule her mit einem solchen Umgang nicht vertraut sind. Nur Mut! Es sind im Anfang nicht viele Paragrafen. Es ist kein Kampf gegen WindmĂŒhlenflĂŒgel, Sie mĂŒssen den âKampf mit dem Gesetz am Gesetzâ gewinnen. Malen Sie sich immer aus, welcher konkrete Fall hinter der gesetzlichen Regelung steht, welcher âNormalfallâ fĂŒr den Gesetzgeber Pate gestanden hat.
Wenn Ihr Professor sagen sollte, das Gesetz sei noch zu kompliziert fĂŒr Sie und zu abstrakt und lĂŒckenhaft, Sie sollten es beiseite legen, er mĂŒsse es Ihnen erklĂ€ren und nur er könne das, glauben Sie ihm nicht. Lesen Sie es selbst nach! Der Gesetzgeber wird oft zu Unrecht als unprĂ€zise, zu kurz, zu eng, zu lang, zu breit oder zu unsystematisch formulierend gescholten. Er kann als Gestalter vielfĂ€ltiger Sachverhalte und Interessen oft nicht anders, als abstrakt und generalisierend zu formulieren. Das sollten Ihnen Ihre Professoren öfter klar machen. Stellen Sie die Gesetze nicht immer in Frage und springen Sie nicht gleich in die SekundĂ€rliteratur der Kommentare und LehrbĂŒcher. Das Gesetz hat SchwĂ€chen, aber mehr anerkennungswĂŒrdige StĂ€rken, die den SchwĂ€chen meist ĂŒberlegen sind. Es muss immer Ihr erster Ansprechpartner sein bei der Beantwortung sĂ€mtlicher Rechtsfragen. Die Gesetzeskenntnis, ihr folgend das GesetzesverstĂ€ndnis, und die stĂ€ndige Neugier, neue Gesetze in ihren Details zu ergrĂŒnden, sind mehr wert als alles juristische Lehrbuch-Wissen. Lassen Sie deshalb das Gesetz immer einsatzbereit und einsprungbereit neben sich aufgeschlagen liegen, und lesen Sie jedes Gesetz nach! Lesen Sie es stets im Stile absoluter Gewissenhaftigkeit, besser noch: pedantischer KleingeistkrĂ€merei! Es lohnt sich wirklich!
Diese Gesetze fallen nun alle nicht vom Himmel! Sie sind von Menschen gemacht in einem komplizierten, verfassungsmĂ€Ăig vorgeschriebenen Verfahren. Ihr Geburtsakt ist im Grundgesetz genauestens festgelegt und das âKindâ Gesetz hat viele âVĂ€ter und MĂŒtterâ, die jedes Wort wohlĂŒberlegt âgesetztâ haben. Das wird Ihnen Ihr Verfassungsrechtsprofessor erklĂ€ren. Wir steigen jetzt ins Innere der Gesetze ein.
Sie mĂŒssen sich von Anfang an darum bemĂŒhen, Gesetze aufregend und mit Entdeckerfreude zu erleben. Sie sind der Mittelpunkt unseres rechtsstaatlich-gesellschaftlichen Koordinatensystems, ich wiederhole mich hier gern, und sie sind hochkomplizierte und komprimierte sprachliche Konstrukte. Sie sind Denk- und Sprachkunstwerke! Sie sollten sich bald in einen einfĂŒhlsamen Ăbersetzer der Gesetze, in einen Dolmetscher des Gesetzgebers verwandeln â dies mit dem alleinigen Ziel, die Gesetze zu verstehen und die Spannungen zwischen Ihren FĂ€llen und dem Gesetz zu entschĂ€rfen, wenn nicht gĂ€nzlich aufzulösen. Das geht tatsĂ€chlich! Wen das juristische Arbeiten mit dem Gesetz und immer hart am Gesetz erst einmal durch âbegreifendenâ Erfolg infiziert hat, der ist geimpft gegen die angebliche Trockenheit und Langweiligkeit der Rechtswissenschaft und die angeprangerte Unverstehbarkeit ihrer Gesetze.
Das wichtigste Wesensmerkmal fĂŒr die FĂŒhrung der Gesellschaft durch die Gesetze ist das ihnen eingeborene Konditionalprogramm, einfacher ausgedrĂŒckt: ihr âWenn-Dann-Grundsatzâ.
Wer dieses Programm verstanden hat, hat schon viel verstanden! â Wenn der Voraussetzungsteil vorliegt, ⊠dann tritt der Rechtsfolgenteil in Kraft. Das Wort Konditionalprogramm setzt sich zusammen aus den Wörtern âkonditionalâ (lat.: bedingend) und âProgrammâ (griech.: vorgesehener Ablauf, Konzeption). Aus der Funktion des Gesetzes, Regeln zu âsetzenâ, um Konflikte zu vermeiden oder zu beheben, die im Zusammenleben der Menschen eintreten können, folgt zwingend diese âbedingende Konzeptionâ des Gesetzes, sein Programm. Deshalb mĂŒssen sie so sein, wie sie sind, denn Gesetze zielen als die Instrumente zur Steuerung von Recht immer auf die BegrĂŒndung von Rechtsfolgen ab.
Diese fundamentale Erkenntnis des Konditionalprogramms gilt fĂŒr alle Gesetze.
LĂ€sst sich fĂŒr uns aber gut an dem einprĂ€gsamen Gebiet des Strafrechts verdeutlichen: Sie wissen schon, dass sich die rechtlichen Voraussetzungen fĂŒr eine Bestrafung aus den TatbestĂ€nden des besonderen Teils des Strafgesetzbuches ergeben. Die Grundstruktur sĂ€mtlicher dieser Paragraphen lautet immer gleich: âWenn du das und dastust oder unterlĂ€sst, dann wirst du mit dem und dem bestraft.â Um dieses âDas und Dasâ geht es in der Lehre vom Tatbestand, in der Lehre der Rechtswidrigkeit und in der Lehre der Schuld, um das âDem und Demâ bei den Rechtsfolgen der Freiheitsstrafe oder Geldstrafe.
Und genauso spielt sich dieses Programm im BGB ab: âWenn Du das und das tust oder unterlĂ€sst, dann kannst Du das und das verlangenâ oder âdann bist Du zu dem und dem verpflichtetâ.
FĂŒr den rechtsanwendenden Studenten ist âRechtâ ja immer dann gegeben, wenn die Rechtsfolgen fĂŒr die Fragen seiner Klausur: âHat sich T strafbar gemacht?â â âKann A von B eine Leistung verlangen?â â âKann sich X mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das staatliche Handeln wehren?â aus den Voraussetzungen eines Gesetzes des StGB, des BGB oder der Verfassung abgeleitet werden können. Das ist dann der Fall, wenn die Voraussetzungen eines Straftatbestands des StGB, einer Anspruchsgrundlage des BGB oder einer Rechtsverletzung des Grundgesetzes erfĂŒllt sind.
Also, wir halten fest: Den Gesetzen des BGB und des StGB liegt die Normstruktur des konditionalen Wenn-dann-Programms zugrunde. Das heiĂt:
- Gesetze abstrahieren von den konkreten UmstÀnden des Einzelfalles,
- Gesetze generalisieren von den Personen und
- Gesetze implementieren in jede Norm einen abstrakt-generellen (Wenn)Voraus-setzungs- und (Dann)Rechtsfolgeteil.
Die Rechtsnorm, die die gesuchte Rechtsfolge jedes juristischen Falles abstrakt enthÀlt, ist die Antwortnorm. Eine Antwortnorm ist ein Spezialgesetz, aus dem die Rechtsfolge (Dann), die in der straf- oder zivilrechtlichen Aufgabenstellung verlangt wird, selbst und unmittelbar aufgrund des Sachverhaltes hergeleitet werden kann.
- Wichtigste Antwortnormen auf die Fallfrage, ob ein BĂŒrger von einem anderen BĂŒrger im Privatrecht etwas verlangen kann, sind die sog. Anspruchsgrundlagen.
- Im StGB sind die StraftatbestÀnde des besonderen Teils die Antwortnormen, deren Rechtsfolgen mit der strafrechtlichen Fallfrage korrespondieren.
Wir haben schon festgestellt, dass es Aufgabe und Zweck der Rechtsordnung ist, das menschliche Zusammenleben zu regeln. Das konkrete Mittel zu diesem Zweck der Regelung ist die einzelne Rechtsnorm, das Gesetz. Es stellt die Voraussetzungen auf und enthÀlt eine Rechtsfolge, die sich auf das Verhalten von Personen bezieht, wobei insbesondere Gebote und Verbote normiert werden. Ein Teil dieser Rechtsordnung ist das StGB, ein anderer das BGB.
Wenn als erste Voraussetzung fĂŒr das Vorliegen eines Straftatbestandes die haargenaue ErfĂŒllung sĂ€mtlicher Tatbestandsmerkmale des besonderen Teils des Strafgesetzbuches und fĂŒr das Vorliegen einer Anspruchsgrundlage im BGB die hundertprozentige ErfĂŒllung sĂ€mtlicher Anspruchsvoraussetzungen erforderlich ist, so kann das selbstverstĂ€ndlich nicht heiĂen, dass der Tatbestand im Einzelnen die konkrete Straftat der konkreten TĂ€terin âMoniâ beschreiben muss oder die Anspruchsgrundlage genau den zu entscheidenden zivilrechtlichen Fall fĂŒr âMoritzâ oder âBĂ€cker Krausâ festlegt.
· § 242 StGB (Diebstahl) lautet nicht:
âWenn Moni der Steffi die Brieftasche aus der Handtasche zieht, um das Geld zu verjubeln, dann wird sie mit GefĂ€ngnis bestraft.â
Statt âMoniâ steht im Gesetz: âwerâ; statt âSteffiâ: âeinem anderenâ; statt âSteffis Brieftascheâ heiĂt es: âeine fremde bewegliche Sacheâ; statt âaus der Handtasche ziehtâ: âwegnimmtâ; statt âum es zu verjubelnâ lautet es: âin der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignenâ.
· § 823 Abs. 1 BGB lautet nicht: âWenn Max den Moritz durch Missachtung der Vorfahrt schwer verletzt, dann muss er Krankenhauskosten und Verdienstausfall in Höhe von 1.000 ⏠bezahlenâ.
Statt âMaxâ heiĂt es abstrakt: âwerâ; statt âMoritzâ âeinen anderenâ; statt âschwer verletztâ heiĂt es: âden Körper und die Gesundheit ⊠verletztâ; statt âdurch Missachtung der Vorfahrtâ steht geschrieben: âvorsĂ€tzlich oder fahrlĂ€ssigâ und âwiderrechtlichâ; statt âKrankenhauskosten und Verdienstausfallâ heiĂt es: âErsatz des daraus entstehenden Schadensâ.
· § 433 Abs. 2 BGB lautet nicht: âWenn Susanne bei BĂ€cker Kraus zwei Brötchen kauft, dann muss sie 1 ⏠zahlen.â
Statt âSusanneâ steht im Gesetz: âder KĂ€uferâ; statt âBĂ€cker Krausâ: der âVerkĂ€uferâ; statt âzwei Brötchenâ: âeine Sacheâ; statt â1 âŹâ: âden Kaufpreisâ; statt âdann muss sie zahlenâ: âist verpflichtet, den Kaufpreis zu zahlenâ.
Kein Gesetzgeber könnte sĂ€mtliche FĂ€lle, die das Leben schreibt, vorausdenken â immer wieder mĂŒsste er sich durch die Wirklichkeit korrigieren lassen. Also wĂ€hlte man fĂŒr die Rechtsnormen sowohl auf der Voraussetzungs- als auch auf der Rechtsfolgenseite abstrakte und generalisierende Begriffe, da Gesetze als allgemeine Regeln notwendig von den konkreten UmstĂ€nden des Einzelfalles (deshalb abstrakt) und den handelnden Personen (deshalb generalisierend) absehen mĂŒssen. Es gibt kein Gesetz, das gerade und genau fĂŒr den konkreten Fall âMoniâ, âMoritzâ oder âBĂ€cker Krausâ geschaffen ist. Allerdings gibt es verschiedene Grade von Abstraktheit. Unsere modernen Gesetze zeichnen sich durch eine starke Abstraktion aus.
Aus dieser notwendigen abstrakt-generalisierenden Begrifflichkeit der Normen folgt ânotâ-wendig, dass die Voraussetzungen des Gesetzes zur Anwendung auf den konkreten âFallâ ausgelegt, entfaltet und definiert werden mĂŒssen. Diese Arbeit ist eine Hauptaufgabe des Juristen und wir werden sie gleich kennen lernen. Der Preis fĂŒr die Abstraktheit ist eben, dass kein Gesetz so genau formuliert werden kann, dass sich damit jeder Fall, der irgendwann auftaucht, ohne weiteres lösen lĂ€sst. Das konkrete Leben bricht immer wieder mit âMonisâ, âSusannesâ und âMĂ€xenâ in die abstrakten Gesetze ein. Das Recht hat stĂ€ndig und ausschlieĂlich mit einbrechendem Leben zu tun â mit FĂ€llen. Sie, ausschlieĂlich sie, fĂŒttern den tĂ€glichen Entscheidungsapparat fĂŒr die Rechtsprechung in den Gerichten. Dabei sind Recht und Gesetz Gefangene der jeweiligen Zeit. Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt weder in der Gesetzgebung, noch in der Rechtswissenschaft, noch in der Rechtsprechung, sondern in der pulsierenden Gesellschaft selbst. Und unsere Gesetze reagieren und regieren immer mit dem gleichen Programm: Wenn â dann! Wenn â dann! Wenn â dann; ihrem Konditionalprogramm.
Was die Juristerei mit einem Gesetzestext so alles anfangen kann, möchte ich Ihnen einmal anhand des Betrugstatbestandes, § 263 StGB, vorfĂŒhren.
§ 263 Betrug
(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschĂ€digt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder UnterdrĂŒckung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhĂ€lt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fĂŒnf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Abrechnungsbetrug â Anstellungsbetrug â Besitzbetrug âBettelbetrug â Blinder Passagier â Beweismittelbetrug â Darlehnsbetrug â Eingehungsbetrug â ErfĂŒllungsbe-trug âErbschleicherei â Forderungsbetrug â Heiratsschwindel â Kreditbetrug â Plagiat â Prozessbetrug âReklameanpreisung â Sozialversicherungsbetrug â Sportbe-trug â Sportwettenbetrug â Spendenbetrug â Subventionsbetrug â Tankstellenbetrug â Versicherungsbetrug â Zechprellerei
Die VerfassungsmĂ€Ăigkeit des Tatbestandes und seine âunbegrenzteâ Auslegung durch die Rechtsprechung wurde in der Vergangenheit kaum problematisiert.
Man kann die Gesetze auch noch auf eine andere Art als mit dem Dietrich des Konditionalprogramms öffnen! Dazu bedienen wir uns einer List in Form einer Seziertechnik.
Diese âGesetzesentschlĂŒsselungstechnikâ ist raffiniert einfach und einfach raffiniert. Mit ihr schaffen Sie es, den stummen Sprachwerken die Zunge zu lösen. Wenn Sie die Ă€uĂerst komprimierten, hĂ€ufig mehrere Alternativen enthaltenden Gesetzesformulierungen in ihren jeweiligen Voraussetzungs-Rechtsfolgen-Segmenten nicht auf Anhieb verstehen, in denen manchmal auch noch neben der Regel die Ausnahme sprachlich eingewoben ist, âsezierenâ Sie die Paragraphenungeheuer! Alphabetisieren Sie die Normen auf ein Ihnen verstĂ€ndliches Sprachniveau herunter, und Sie werden sehen, die Gesetze verlieren schlagartig an Kompliziertheit. Sie haben einen Paragraphen erst dann richtig begriffen, wenn Sie ihn in seine kleinsten Einzelteile zerlegen und wieder zusammenbauen können.
Machen Sie bitte mal mit und schlagen Sie die genannten Paragrafen auf.
Ein erstes Beispiel aus dem BGB:
Als erstes Beispiel möge der § 181 BGB dienen, ĂŒber den insoweit Einigkeit besteht, als dass ihn auf Anhieb niemand versteht. Er wird bald unausweichlich auf Sie zukommen. Lesen Sie bitte diesen Paragraphen! Machen Sie jetzt mit mir âmehrâ aus dem Paragraphen! Aus eins machen wir drei! Wir spielen jetzt Gesetzgeber und formulieren ihn um, indem wir seine Alternativen zu neuen Paragraphen bĂŒndeln, â§§ 181 a, 181 b, 181 c BGBâ, und ihn so neu gestalten:
§ 181 a: Ein Vertreter kann im Namen des Vertretenen mit sich im eigenen Namen ein RechtsgeschÀft nicht vornehmen (InsichgeschÀft).
§ 181 b: Ein Vertreter kann im Namen des Vertretenen mit sich als Vertreter eines Dritten ein RechtsgeschÀft nicht vornehmen (Mehrfachvertretung).
§ 181 c: In Abweichung der §§ 181 a, 181 b kann ein Vertreter selbstkontrahieren oder eine Mehrfachvertretung doch vornehmen, wenn
1. es ihm gestattet ist oder
2. das RechtsgeschĂ€ft ausschlieĂlich in der ErfĂŒllung einer Verbindlichkeit besteht oder
3. es rechtlich lediglich vorteilhaft ist (stÀndige Rechtsprechung).
Die Rechtsfolge ist ĂŒbrigens trotz seines Wortlautes âkann nichtâ nicht die Nichtigkeit des RechtsgeschĂ€fts, sondern entsprechend § 177 BGB schwebende Unwirksamkeit.
Ein zweites Beispiel aus dem Strafrecht:
Wenn Sie im Strafrecht zu § 267 StGB (UrkundenfĂ€lschung) gelangen, ein gesetzgeberisches Meisterwerk an sprachlicher Dichte, nehmen Sie sich zunĂ€chst genĂŒgend Zeit, diese Norm zu studieren. Versuchen Sie einmal, aus den drei Alternativen dieses Straftatbestandes drei selbstĂ€ndige Paragraphen zu texten. Schnell und mit kreativer Entdeckerfreude haben Sie die fiktiven â§§ 267 a, 267 b, 267 c StGBâ erschlossen.
§ 267 a: Wer zur TÀuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde herstellt, wird bestraft.
§ 267 b: Wer zur TÀuschung im Rechtsverkehr eine echte Urkunde verfÀlscht, wird bestraft.
§ 267 c: Wer zur TÀuschung im Rechtsverkehr eine unechte oder verfÀlschte Urkunde gebraucht, wird bestraft.
Nunmehr stellen Sie die Tatbestandsmerkmalspakete zusammen und arbeiten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus:
§ 267 a: Urkunde â zur TĂ€uschung im Rechtsverkehr â unechte herstellen.
§ 267 b: Urkunde â zur TĂ€uschung im Rechtsverkehr â echte verfĂ€lschen.
§ 267 c: Urkunde â zur TĂ€uschung im Rechtsverkehr â unechte oder verfĂ€lschte gebrauchen.
- Ein letztes Beispiel aus dem Sachenrecht des BGB:
Zur ĂberprĂŒfung der gelernten âSeziertechnikâ wollen wir jetzt § 873 Abs. 1 BGB in die â§§ 873 a, 873 b, 873 c, 873 d und 873 e BGBâ sezieren. Wir erarbeiten ganz stur fĂŒr jede âverkeilteâ Alternative das jeweilige sezierte Konditionalprogramm! Erst mal § 873 Abs. 1 BGB lesen! Und jetzt geht es los:
§ 873 a: âZur Ăbertragung des Eigentums an einem GrundstĂŒck ist die Einigung des Berechtigten und des anderen Teils ĂŒber den Eintritt der RechtsĂ€nderung und die Eintragung der RechtsĂ€nderung in das Grundbuch erforderlich.â
§ 873 b:âZur Belastung eines GrundstĂŒcks mit einem Rechte ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.â
§ 873 c:âZur Ăbertragung eines belastenden Rechtes (vgl. § 873 b) ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.â
§ 873 d: âZur Belastung eines belastenden Rechtes (vgl. § 873 b) ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.â
§ 873 e: âDie Paragraphen 873 a bis 873 e gelten nicht, wenn das Gesetz ein anderes vorschreibt.â
Sie stellen nach den drei Beispielen jetzt viel besser als vorher fest, was die Alternativen des Gesetzes sind, was sie verbindet und was sie trennt. Sie sehen, wie sich die sezierte Norm von selbst öffnet und ihren Inhalt preisgibt. In Zukunft können Sie mit der Seziertechnik und dem Konditionalprogramm selbst die Gesetze auseinandernehmen, aufschlĂŒsseln oder umprogrammieren, kurz und klein stutzen oder anwachsen lassen. Der Charme dieser GesetzesaufschlĂŒsselungstechnik besteht darin, dass sie so einfach ist und immer funktioniert. Sie werden sie hoffentlich nicht mehr vergessen.
Wenn Sie ab jetzt ein neues Gesetz oder ein neues Rechtsinstitut angehen, abstrahieren Sie es zunĂ€chst von allen momentan unwichtigen Details in den AbsĂ€tzen 1 bis 5. Lesen Sie dann mit dem Zeigefinger mehrmals nur Absatz 1 des Gesetzes â Wort fĂŒr Wort! Ziehen Sie alles Unwichtige ab! Steigen Sie ein ins Gesetz! Ăffnen Sie das Gesetz mit dem âKonditionalprogrammâ: Wenn-Dann! PrĂ€parieren Sie mit dem âSezierbesteckâ die einzelnen Bausteine der Tatbestandsmerkmale heraus! Was will das Gesetz regeln? â Was ist sein tĂ©los? â Was sind seine Tatbestandsmerkmale? â Was ist seine Rechtsfolge?
Das Lernen von Jura besteht in der Erarbeitung einer juristischen Kunstfertigkeit zur Auslegung, Deutung, Ăbersetzung und ErklĂ€rung von Gesetzen, um dann Lebenssachverhalte diesen Gesetzen sicher, prĂ€zise und klar zuordnen zu können. Dieses auslegende Verfahren ist nicht nur die Methode der historischen und philosophischen Geisteswissenschaftler und der schriftgelehrten theologischen Wissenschaftler, sondern auch die richtige Methode fĂŒr uns âGesetzeswissenschaftlerâ. Gesetz ist eben nicht nur Sprache, sondern immer ein StĂŒck Interpretation und Auslegung. Ich komme bald darauf zurĂŒck.