Als einen Sternenhimmel voller Gesetze! Die Rechtsordnungist das System, in dem das Recht „geordnet“ ist. Unser Rechtsstaat umfasst eine Unmenge von Gesetzen! Schaut man sie an, geht es einem fast so wie es einem des Nachts auf Mallorca ergeht, wenn man in den sternenübersäten Himmel blickt, um zu träumen oder nach Sternschnuppen Ausschau zu halten. Eine Unmenge von Sternen! Würde man jemandem am nächsten Morgen die Frage stellen, was er am Abend zuvor oder in der Nacht bei seinem Blick in den Nachthimmel gesehen hat, würde er den Frager entrüstet anschauen: „Kein Mensch kann dir diesen Himmel beschreiben!“
Und doch! Kluge Griechen haben schon vor 2500 Jahren versucht, diesen Himmel zu ordnen, indem sie Einzelsterne zu Sterngruppen und Sterngruppen zu Sternbildern zusammengefasst, sie nach ihren Göttern oder Tieren benannt und so ganz allmählich den gestirnten Himmel in Reih und Glied gebracht und geordnet haben (lat.: ordinare, das heißt in Reih und Glied bringen; ordnen). Auch wir müssen versuchen, unseren „gestirnten“ Gesetzeshimmel in Reih und Glied zu bringen, indem wir Gesetzesbilder und Gesetzesgruppen schaffen und sie benennen.
Sie haben sich mit dem Beginn Ihres Studiums auf diesen Sternenhimmel der Gesetze eingelassen und stellen nun beunruhigt fest: „Verwirrend: Welche unendliche Vielzahl!“.
Seien Sie beruhigt: Hinter der Vielheit von „Recht und Gesetz“ steht eine Einheit, die einfacher ist als ihre Vielheit. Diese systematische Einheit, in der das Recht geordnet ist, gilt es zunächst, sichtbar zu machen. Wir nennen diese Ordnung: die Rechtsordnung.
Ihre Entstehung ist evolutionär. Menschliche Konflikte sind und waren immer Dreh- und Angelpunkt der gesamten Juristerei. Ohne solche Konflikte gäbe es keine abstrakten Rechtsnormen und keine konkrete Anwendung derselben durch die Gerichte. Die Frage nach einer Ordnung des Rechtsstoffes – einer „Rechts-Ordnung“ – und ihrer Einhaltung stellte sich nicht.
Um irgend ein erstes „Ur-Konflikt-Sandkorn“ sammelte sich im „Rechts-Strom“ der Jahrtausende innerhalb der Gemeinschaften eine riesige Sandbank
· aus Riten, Regeln, Traditionen, Gewohnheiten, Sitten, Religionen und Moral, Gesetzen und Paragraphen,
· die zuerst von Priestern, Medizinmännern, Vogelschauern, Orakeln und Druiden, später von Dorfältesten und Schamanen, dann von Richtern und Rechtspflegern
· zunächst in Zweikämpfen, dann in Gottesbeweisen und Landfrieden, später in Urteilen und Beschlüssen angewendet wurden.
Die Fülle dieser gewordenen Gesetzesregeln musste überschaubar gemacht werden! Wissenschaftliche Gesichtspunkte sind im Laufe der Rechtsgeschichte entwickelt worden, um den Stoff „Recht“ in „Reih und Glied“ zu bringen, ihn zu „ordnen“.
Das Ergebnis dieser geistigen Arbeit steht vor Ihnen: unser Recht in unserem Rechtssystem.
Nehmen wir ein Beispiel: Der angetrunkene Max stößt mit seinem Wagen unter Missachtung der Lichtsignalanlage („Juristen“ sagen so; „Menschen“ sagen: Ampel) mit dem Auto des Moritz auf der Kreuzung zusammen. Moritz ist schwer verletzt und muss ins Krankenhaus.
1. Mögliche Fragen an die Rechtsordnung
Bevor wir dieser Rechtsordnung zu Leibe rücken, verweilen wir einen Augenblick bei Max und Moritz. Wie wird ihr Konflikt gelöst? – Welche Fragen stellen sich? Das Faustrecht ist, gottlob, abgeschafft. Ein moderner Staat muss deshalb Rechtsregeln zur Verfügung stellen, um Streitfälle im menschlichen Zusammenleben auf andere Weise als durch die Fäuste zu lösen. Solche Rechtsregeln sind in der Rechtsordnung als Summe von Gesetzen und Paragraphen niedergelegt. Paragraphen sind die kleinsten Einheiten der Rechtsordnung für die Herangehensweise an eine Falllösung für Streitfälle.
Versuchen wir also einmal, einige „alltägliche“ Fragen aus der Unsumme möglicher „rechtlicher“ Fragen an die Rechtsordnung herauszuarbeiten, die mit diesem doch „täglich“ vorkommenden Fall zusammenhängen können:
· Muss Max Krankenhauskosten zahlen?
· Muss Max Schmerzensgeld leisten?
· Wie steht es mit Verdienstausfall?
· Wer zahlt die Reparaturkosten für das Fahrzeug?
· Muss Max sich entschuldigen?
· Muss Max Moritz im Krankenhaus besuchen?
· Hat Max sich strafbar gemacht?
· Verliert Max seine Fahrerlaubnis?
· Wer muss den Unfall aufnehmen?
· Warum gibt es überhaupt Verkehrsregeln?
· Wer erlässt sie?
· Vor welchen Gerichten muss Moritz seine Schäden einklagen?
· Was sind seine Anspruchsgrundlagen?
· Wie führt man einen Zivilprozess?
· Wie funktioniert die Vollstreckung?
· Wer setzt eine mögliche Strafe fest?
· Wer führt den Strafprozess und nach welchen Regeln?
· Wer erbt, wenn Moritz versterben sollte?
Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Gesamtheit der rechtlichen Beziehungen, die sich aus dem Zusammenleben aller Menschen in Gesellschaft, Staat, Ehe, Familie und Beruf ergeben – ein ganz normaler Autounfall! Dieses Füllhorn voller Fragen, die sich im Zusammenleben der Menschen auftun, dieser unermessliche Reichtum des Rechtsstoffes muss für den Juristen beherrschbar werden. Hinter der Vielzahl der Fragen steht eine Rechtsordnung, die irgendwann, irgendwo auf der Welt in einem „Ur-Konflikt“ unserer Vorfahren ihren Ausgangspunkt nahm und Antworten geben muss. Seit Menschen von anderen Menschen erwarten, dass sie sich menschlich verhalten, seitdem hat man sich um eine solche Rechtsordnung bemüht. Erst zaghaft und etwas unbeholfen, in der antiken Welt in mächtige mesopotamische Stelen gemeißelt und auf tonerdene Tafeln gebrannt, dann in der Spätantike handgeschrieben auf ägyptische Papierrollen niedergelegt, bis die Rechtsordnung heute in gedruckten Gesetzbüchern, sog. Kodifikationen, keine partikulare, sondern eine umfassende Unternehmung geworden ist. Sie ist ein unsere bürgerliche, staatliche und wirtschaftliche Welt zusammenhaltendes und ordnendes systematisches Ganzes, eine große kulturelle Errungenschaft sowie ein ganz wesentlicher Standortfaktor für unser Land.
Mögliche Antworten der Rechtsordnung:
Die eben gestellten „Fragen an die Rechtsordnung“ könnten folgende Antworten finden:
· Kann Moritz Ersatz für die Krankenhauskosten und die zerrissene Kleidung verlangen? – Ja, siehe § 823 Abs. 1 BGB (materieller Schaden)!
· Wie steht es um Schmerzensgeld? – Ja, siehe § 253 Abs. 1, 2 BGB (immaterieller Schaden)!
· Kann Max bestraft werden? – Ja, siehe § 24 StVG; §§ 315 c, 229 StGB!
· Droht ihm ein Führerscheinentzug? – Ja, siehe § 69 StGB!
· Droht ihm ein Fahrverbot? – Ja, siehe § 44 StGB, § 25 StVG!
· Wo ist bestimmt, dass die Polizei kommen und den Unfall aufnehmen muss? – In speziellen Polizeigesetzen der Bundesländer!
· Wer entscheidet, ob die zivilrechtlichen Ansprüche bestehen? – siehe §§ 23, 71 GVG – Zivilgerichte als Amts- oder Landgerichte je nach Streitwert!
· Wer entscheidet, ob sich Max strafbar gemacht hat? – siehe §§ 24, 25, 74 GVG – Strafgerichte mit den Eingangs-Instanz-gerichten Amts- und Landgericht je nach der Höhe der Straferwartung!
· Wie läuft die gerichtliche Feststellung des Schadenersatzes? – Nach dem Erkenntnisverfahren der ZPO, siehe § 128 ff ZPO und § 253 ff ZPO – die am Ende stehende „Erkenntnis“ ist das Urteil: Klageabweisung oder Klagezuspruch!
· Wie läuft die gerichtliche Feststellung der Strafe? – Nach dem Erkenntnisverfahren der StPO, siehe §§ 260, 268 StPO, mit dem Urteilstenor – Freispruch oder Verurteilung zu Geld- oder Freiheitsstrafe!
· Wie kommen die Gesetze überhaupt zustande? – Nach Art. 76-82 GG!
Ergebnis: Sie erkennen in diesem juristischen Durcheinander von Fragen und Antworten schon schemenhaft eine gewisse Aufstellung von „Ordnungen“ und „Gesetzen“:
· Gesetze, die Ansprüche regeln: §§ 823, 253 Abs. 1, 2 BGB
· Gesetze, die allgemeine Verhaltensregeln festsetzen, die also verhindern sollen, dass es überhaupt zu solchen
Störungen kommt (§§ 229, 315 c StGB, 24 StVG)
· Gesetze, die die Strafbarkeit eines Tuns festlegen (StGB)
· Gesetze, die die Kompetenzen und Aufgaben der Polizei feststellen (Polizeigesetze, StPO)
· Gesetze, die die Organisation und Zuständigkeit der Gerichte regeln (GVG)
· Gesetze, die bestimmen, in welchem „Prozedere“ (lat.: „das Zu-Werke-Gehen“) die Gerichte ihre Entscheidungen treffen und diese durchsetzen (StPO, ZPO)
· Gesetze, die „Nebenfolgen“ regeln (§§ 44, 69 StGB, 25 StVG)
· Gesetze, die regeln, wie Gesetze überhaupt zustande kommen (Grundgesetz)
Schaut man sich nun die zu „Gesetzesbündeln“ verdichteten Fragen an die Rechtsordnung und ihre Antworten genauer an, so stellt man Erstaunliches fest. Zwischen allen Gesetzen gibt es nur eine große abstrakte Unterscheidung:
Entweder die Gesetze betreffen das Verhältnis zwischen „Bürger Max“ und „Bürger Moritz“. Oder aber sie betreffen das Verhältnis des „Staates“ gegen „Bürger Max und Bürger Moritz“ bzw. umgekehrt „Bürger Max und Bürger Moritz“ gegen den „Staat“.
Die Rechtsordnung ist die Einheit aller aufeinander abgestimmten Rechtssätze eines Staates zur Schaffung von Recht und Gerechtigkeit. Sie zerfällt in zwei Hälften. Davon nennt man traditionell die eine Hälfte: Privatrecht – die andere Hälfte: öffentliches Recht.
· Privatrecht ist der Teil der Rechtsordnung, der die rechtlichen Beziehungen der einzelnen Bürger auf der Stufe der Gleichordnung untereinander in Ehe, Familie, Beruf und Gesellschaft regelt.
· Öffentliches Recht dagegen ist der Teil der Rechtsordnung, der die Organisation des Staates, die Befugnisse und Aufgaben der Organe des Staates und das Verhältnis Staat gegen Bürger und Bürger gegen Staat regelt.
Daneben gibt es noch den schon erwähnten gesetzlich nicht fixierten, außerrechtlichen Bereich von Sitte, Moral, Anstand und Höflichkeit. Dass Max sich bei Moritz entschuldigen oder ihn im Krankenhaus besuchen sollte, ist rechtlich nicht erzwingbar, sondern kann allenfalls als ein Akt des Anstandes und der Höflichkeit verlangt werden. Ob Max „Gewissensbisse“ hat und sich schlecht fühlt oder ob es ihn innerlich nicht berührt, „kalt“ lässt, ist eine Frage nach seiner Moral (siehe Übersichten 1 und 2).
Übersicht 1:
Übersicht 2:
Die gewaltige Rechtsgalaxie, die sich aus dem „Urknall“ des ersten Streitfalles unserer zwei Steinzeitmenschen entwickelt hat, hat also zwei große Sonnensysteme. Sie drehen sich entweder um die Zentralachse Bürger gegen Bürger oder um die Achse Staat gegen Bürger bzw. Bürger gegen Staat.
Die Frage, die sich jetzt aufdrängt, ist: Nach welchen Kriterien erfolgt die Differenzierung von Privatrecht und öffentlichem Recht? –
Üblicherweise wird die Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht anhand folgender drei Fragen vorgenommen (siehe Übersicht 3):
· Gestalten sich die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten nach dem Verhältnis von Über- und Unterordnung oder auf der Stufe der Gleichordnung? (Subordinationstheorie)
· Sind die betroffenen Gesetze im Allgemeininteresse oder im Individualinteresse des einzelnen Bürgers erlassen? (Interessentheorie)
· An welches Subjekt (Adressat) wendet sich das Gesetz: an die staatlichen Hoheitsträger oder an den einzelnen Bürger? (Adressaten-Subjektstheorie)
Übersicht 3: Das Quellgebiet der Juristerei:
Diese Trichotomie (Dreiteilung) bestimmt die Ausbildung und das Denken der Juristen.
Die scharfe Trennung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht ist nicht nur eine wissenschaftliche Marotte und professorale Spielwiese, sondern sie ist von erheblicher praktischer Brisanz: Die beiden Teilgebiete sind nämlich verschiedenen Gerichtszweigen mit unterschiedlichen Verfahrensordnungen zugewiesen.
Für die öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten sind die Verwaltungsgerichte (allgemeine Verwaltungsgerichte, Finanzgerichte, Sozialgerichte) zuständig, für die privatrechtlichen Fehden entscheidet die ordentliche Gerichtsbarkeit.
Für die bürgerlich-rechtlichen Verfahren auf dem Spezialgebiet des Arbeitsrechts ist die Arbeitsgerichtsbarkeit als selbständiger Rechtszweig eingerichtet worden. Das Strafrecht wiederum ist als Teil des öffentlichen Rechts aus rein historischen Gründen ebenfalls der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen (vgl. § 13 GVG).
Sollten Sie diese Gerichtszweige einmal vergessen, dann schauen Sie in Art. 95 GG nach.