Sie liegt im Schutz besonders wichtiger Interessen (➞ Rechtsgüter), die für das geordnete menschliche Zusammenleben unentbehrlich sind und deren Schutz das Zivilrecht nicht leisten kann. Die entscheidende Frage für eine offene Gesellschaft ist daher, wie viele Regeln mit Verboten und Geboten sie braucht, damit sie noch funktioniert. Und: Wann sind es zu viele Regeln mit Geboten und Verboten, so dass sie nicht mehr offen ist.
Beispiel: E ist Eigentümer eines wertvollen Ringes. T besucht den E und nimmt unbemerkt den Ring aus einer unverschlossenen Schublade, um ihn später zu Geld zu machen. Am nächsten Tag veräußert er ihn an den gutgläubigen D für 1.000 €. Wie ist die Rechtslage?
- Zivilrechtlich kann E von D gem. § 985 BGB den Ring zurückverlangen, da dieser wegen § 935 BGB nicht gutgläubig Eigentum gem. §§ 929, 932 BGB erworben hat (➞ gutgläubiger Erwerb). § 986 BGB hindert nicht, da D zwar dem T gegenüber ein Recht zum Besitz aus § 433 BGB hat, nicht aber dem E gegenüber. E könnte auch die Verfügung des ➞ Nichtberechtigten T genehmigen gem. § 185 Abs. 2 BGB und von ihm gem. § 816 Abs. 1 BGB den von D erlangten Kaufpreis in Höhe von 1.000 € verlangen. Daneben kämen Ansprüche aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB in Betracht.
- Strafrechtlich taucht nun Neues auf: T könnte sich zunächst des ➞ Diebstahls gem. § 242 Abs. 1 StGB schuldig gemacht haben. Dann müsste T eine ➞ fremde ➞ bewegliche Sache in der Absicht weggenommen haben, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, und müsste insgesamt rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben. T hat an dem Ring – einem transportablen (beweglich) körperlichen Gegenstand (Sache), der im Eigentum des E stand (fremd), den bisherigen ➞ Gewahrsam aufgehoben und neuen, eigenen Gewahrsam begründet (weggenommen), wobei er den E enteignen und sich den Ring aneignen wollte (➞ Zueignungsabsicht) und keinen von der Rechtsordnung anerkannten Anspruch auf den Ring hatte (➞ Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung). Er handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.
Also hat sich T wegen Diebstahls gem. § 242 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
- Weiterhin könnte T sich wegen ➞ Betruges gem. § 263 Abs. 1 StGB zum Nachteil des D strafbar gemacht haben. Dann müsste er durch Vorspiegelung falscher Tatsachen einen Irrtum bei D erregt haben, der daraufhin eine Vermögensverfügung getroffen und einen Vermögensschaden erlitten haben müsste. Weiterhin müsste T in der Absicht rechtswidriger Bereicherung gehandelt haben. T hat dem D seine Eigentümerstellung vorgetäuscht (Vorspiegelung falscher Tatsachen), wodurch die Vorstellungen des D von der Wirklichkeit abwichen (Irrtum). D hat durch die Zahlung des Kaufpreises (Vermögensverfügung) sein Vermögen vermindert, da der Zahlung des Kaufpreises wegen § 935 BGB der Eigentumserwerb als Äquivalent nicht gegenüberstand (Vermögensschaden). Auch kam es T auf diesen erstrebten Vermögensvorteil an (Bereicherungsabsicht), auf den er keinen von der Rechtsordnung anerkannten Anspruch hatte (Rechtswidrigkeit der Bereicherungsabsicht). Auch hier handelte er rechtswidrig und schuldhaft.
Also hat T neben § 242 StGB rechtswidrig und schuldhaft auch den Tatbestand des Betruges gem. § 263 Abs. 1 StGB verwirklicht.
Die Frage ist, warum T trotz der zivilrechtlichen Ansprüche des E gegen den D, die den E ja das Eigentum wieder erlangen lassen, auch noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird.
Im Bereich der Gesamtrechtsordnung kommt dem Strafrecht die spezielle Aufgabe zu, besonders wichtige Bereiche des sozialen menschlichen Zusammenlebens bzw. die sozial wichtigsten Interessen der Rechtsgemeinschaft (auch Rechtsgüter genannt) mit einem besonders starken Schutz zu versehen. Der vom Zivilrecht gewährte Schutz reicht nicht aus, da das Zivilrecht mit seiner Ausgleichsfunktion und seiner Schadenersatzpflicht einen ersatzbereiten und finanzkräftigen Täter von Eingriffen in die Rechtssphäre Dritter nicht abhalten kann. Käme es T nur darauf an, E zu ärgern, weil er weiß, wie sehr E an dem von der Freundin geschenkten Ring hängt, könnte er bei bloßem Risiko des Schadenersatzes nach § 823 BGB oder des Herausgabean-spruchs nach § 985 BGB diesen Ring stehlen oder zerstören. Das Eigentum des E wäre nur sehr, sehr unvollkommen geschützt. Das Strafrecht soll daher das Eigentum durch Strafvorschriften zum Beispiel vor Aneignung (§ 242 StGB) und Zerstörung (§ 303 StGB) schützen. T riskiert also nicht nur Herausgabe oder Zahlung, sondern auch eine Gefängnisstrafe.
Darüber hinaus sind viele Rechtsgutverletzungen irreparabel, wie z.B. die Verletzung des Lebens, des Körpers, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit. Diese Rechtsgüter bedürfen in ganz besonderer Weise des Strafrechtsschutzes. Aber nicht nur diese höchstpersönlichen Interessen des einzelnen (individuelle Rechtsgüter), sondern auch die Rechtsgüter der Allgemeinheit (kollektive Rechtsgüter) benötigen strafrechtlichen Schutz. Die Rechtspflegeorgane, wie Richter oder Rechtspfleger (➞ Jurist als Beruf), die bei der Entscheidungsfindung auf Beweismittel wie Zeugen oder Urkunden dringend angewiesen sind, kämen ohne einen entsprechenden Schutz des Rechtsguts „Sicherheit der Rechtspflege“ zu keinem gerechten Ergebnis. Mit Schadensausgleich ist hier nicht geholfen. Demgemäß schützt das Strafrecht die Rechtspflege als Rechtsgut der Allgemeinheit in den Eidesdelikten (vgl. §§ 153, 154, 156 StGB) und den Urkundsdelikten (vgl. §§ 267, 271, 348 StGB).