Abstraktionsprinzip bedeutet im BGB die konsequente Trennung von ➞ Verpflichtungs- und ➞ Verfügungsgeschäften. Zu unterscheiden ist zwischen dem schuldrechtlichen Geschäft, das zumindest eine Partei zu einer Leistung verpflichtet, und dem davon getrennten abstrakten Verfügungsgeschäft (z.B. das Verfügungsgeschäft der Übereignung gem. § 929 S. 1 BGB). Die Übereignung ist unabhängig vom schuldrechtlichen Geschäft, sie ist ein „abstraktes“ Rechtsgeschäft. Ist das Verpflichtungsgeschäft (z.B. § 433 BGB) nichtig, kann die Übereignung (§ 929 S. 1 BGB) trotz-dem wirksam bleiben. Eine grundlos erfolgte Übereignung kann aber durch das Rechtsinstitut der ➞ ungerechtfertigten Bereicherung gem. § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BGB rückgängig gemacht werden. Wer A wie Abstraktionsgeschäft sagt, muss auch B wie ungerechtfertigte Bereicherung sagen.
Der Anfänger hat erfahrungsgemäß weniger Schwierigkeiten, das Abstrakte im Abstraktionsprinzip zu verstehen, als die drei konkreten Rechtsgeschäfte eines Kaufs mit ihren sechs Willenserklärungen auseinander zu halten. Für ein solches Verständnis ist es unabdingbar, einen Lebensausschnitt auszuwählen, in dem die drei Rechtsgeschäfte auf einem „didaktischen Zeitstrahl“ auseinander gezogen werden, die wirtschaftliche „Einheit Kauf“ chronologisch zerlegt und der Ablauf in Zeitlupe geschildert wird, bevor man alles in einem Zeitmoment zusammen-fallen lässt.
Beispiel:
• Am 1.2. bestellt K beim Versandhaus V ein Fahrrad. V bestätigt die Bestellung und kündigt die alsbaldige Lieferung an.
• Am 1.3. liefert V dem K das Fahrrad.
• Am 1.4. überweist K den vereinbarten Kaufpreis i.H. von 1.000 € auf das Konto des V, wo er am nächsten Tage gutgeschrieben wird.
Datum 1.2.: Was ist passiert?
V und K haben einen Kaufvertrag geschlossen. Der Kaufvertrag ist ein ➞ Rechtsgeschäft, das aus zwei Willenserklärungen (Vertragsangebot des K und Annahme dieses Angebotes durch V) besteht. An diesen Tatbestand knüpft das Gesetz die in § 433 BGB genannten Rechtsfolgen, nämlich die Pflicht des V zur Übereignung der Ware (§ 433 Abs. 1 BGB) und die Pflicht des K zur Zahlung des Kaufpreises (§ 433 Abs. 2 BGB). Umgekehrt erwächst aus dieser jeweiligen Pflicht des V und des K das jeweilige Recht des K gegen V und des V gegen K, die Erfüllung dieser Verpflichtungen verlangen zu können. Ein solches „Recht“ nennt man einen ➞ Anspruch (vgl. § 194 BGB). Der Kaufvertrag ist hier das Verpflichtungsgeschäft, das lediglich Handlungspflichten entstehen lässt, in unserem Beispiel also die Zahlungspflicht des K und die Pflicht des V zur Übereignung des Fahrrades. Die Erfüllung dieser beiden Verpflichtungen erfolgt durch zwei gesonderte Rechtsgeschäfte, die Verfügungsgeschäfte, die noch vorgenommen werden müssen. Der Kaufvertrag begründet also lediglich zwei wechselseitige Handlungspflichten; es erfolgt noch keine Änderung der Eigentumslage, weder an der Ware noch am Geld.
Die Wirkungen des Kaufvertrages sind also folgende:
• Es entsteht der Anspruch des Verkäufers gegen den Käufer auf Kaufpreiszahlung gem. § 433 Abs. 2 BGB.
• Es entsteht der Anspruch des Käufers gegen den Verkäufer auf Übereignung der Ware gem. § 433 Abs. 1 S. 1 BGB.
Datum 1.3.: Was ist an diesem Tage geschehen?
V und K haben hier die Übereignung der Ware bewerkstelligt. Dieses Rechtsgeschäft erfolgt gem. § 929 S. 1 BGB. Es handelt sich hierbei um eine sachenrechtliche Vorschrift, welche die Übereignung einer beweglichen Ware zum Gegenstand hat. Dieser Paragraph setzt voraus:
• Einigung über den Eigentumsübergang,
• Übergabe der Sache,
• Einigsein zum Zeitpunkt der Übergabe und
• Berechtigung, d.h. der Übereignende muss verfügungsbefugter Eigentümer sein.
Am 1.3. ist auf das Eigentum an der Ware dergestalt eingewirkt worden, dass das Eigentum an dem Fahrrad von dem Verkäufer V auf den Käufer K übergegangen ist. Die rechtliche Folge ist, dass der Anspruch des K gegen V aus § 433 Abs. 1 S. 1 BGB durch Erfüllung gem. § 362 Abs. 1 BGB erloschen ist. Denn der richtige Schuldner V hat an den richtigen Gläubiger K die richtige Leistung, nämlich die Verschaffung des Eigentums, erbracht. Also ist das Schuldverhältnis – der Anspruch des K gegen den V auf Übereignung gem. § 433 Abs. 1 BGB – erloschen. Damit hat V gegenüber K seine Verpflichtung aus dem Kaufvertrag erfüllt.
Datum 1.4.:
An diesem Tage ist das Eigentum an den vereinbarten 1.000 € gem. den Tatbestandsvoraussetzungen des § 929 S. 1 BGB von K auf V übergegangen. Damit hat K seine Verpflichtung aus § 433 Abs. 2 BGB dem V gegenüber gem. § 362 Abs. 1 BGB erfüllt. Denn der richtige Schuldner K hat gegenüber dem richtigen Gläubiger V die richtige Leistung, nämlich die Übereignung der 1.000 €, bewirkt. Also ist das Schuldverhältnis aus § 433 Abs. 2 BGB erloschen. Mit der Gutschrift auf dem Konto des Gläubigers ist die richtige Leistung bewirkt. Denn es gilt der Satz: „Buchgeld ist gleich Bargeld.“
Hierzu ein Überblick:
Bei einem Fahrradkauf hat man es also mit drei Rechtsgeschäften, bestehend aus sechs Willenserklärungen zu tun:
- Verpflichtungs(rechts)geschäft:
Kaufvertrag über das Fahrrad (§ 433 BGB)
- Willenserklärung: Angebot zum Abschluss
- Willenserklärung: Annahme des Angebots
- Erstes Verfügungs(rechts)geschäft:
Übereignung der Ware (§ 929 BGB)
- Willenserklärung: Angebot zur Übereignung des Rades
- Willenserklärung: Annahme dieses Angebots
- Zweites Verfügungs(rechts)geschäft:
Übereignung des Geldes (§ 929 BGB)
- Willenserklärung: Angebot zur Übereignung des Geldes
- Willenserklärung: Annahme dieses Angebots
Das mit dem Abstraktionsprinzip verbundene Trennungsprinzip galt nicht immer. Bis zum Jahre 1900 herrschte auch in Deutschland, wie in allen anderen Rechtsordnungen der Welt auch heute noch, das sogenannte Einheitsprinzip. Das Abstraktionsprinzip ist von Friedrich Carl von Savigny, einem großen Juristen des 19. Jahrhunderts, entwickelt worden. Selbst die Römer, die großen Baumeister der juristischen Architektur, kannten es nicht. Für sie waren der Kauf und seine Abwicklung eine Einheit, ein einziger Vertrag. Für sie hatte man sich sozusagen im schuldrechtlichen (obligatorischen) Kaufvertrag schon gleichzeitig darauf verständigt, dass sowohl das Eigentum am Geld als auch das Eigentum an der Ware übergehen sollte, wenn das Geld bzw. die Ware dann später dem Verkäufer bzw. Käufer tatsächlich übergeben wird. Deshalb war die Übereignung nach römischem Recht automatisch unwirksam, wenn der Kaufvertrag unwirksam war.
Die drei Einigungen, nämlich
- die Einigung beim Kaufvertrag,
- die Einigung zur Übereignung der Ware nach § 929 S. 1 BGB
- sowie die Einigung zur Übereignung am Geld gem. § 929 S. 1 BGB,
die wir fein säuberlich getrennt haben, waren für die Römer eine einzige Einigung. Beim Kauf genügte eine einmalige Einigung – deshalb: Einheitsprinzip.