Neben der vorsätzlichen Tatbegehung kennt das StGB als weitere Schuldform das fahrlässige Handeln. Während früher die Fahrlässigkeit ein Schattendasein führte, spielt sie heute in der Praxis der Strafgerichte eine Hauptrolle, vor allem bei den Erfolgsdelikten § 222 StGB – fahrlässige Tötung – und § 229 StGB – fahrlässige Körperverletzung. Infolge des rapiden Ansteigens der Verkehrskriminalität sowie infolge der rasanten technisch-wissenschaftlichen Entwicklung in vielen Lebensbereichen – man denke nur an die Eingriffsmöglichkeiten der Medizin, die Technisierung der Fabriken und Haushalte – hat sich der Anwendungsbereich dieser Straftaten ganz erheblich vergrößert.

Während die Fahrlässigkeit im Zivilrecht nach einem rein objektiven Maßstab festgestellt wird, wird im Strafrecht auch auf die individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse des Täters abgehoben. Das macht es kompliziert.

  Langformel: Fahrlässig handelt, wer diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen (obj.) und seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen (subj.) verpflichtet (obj.) und in der Lage (subj.) ist, und deshalb den Erfolg nicht vorhersieht, den er hätte vorhersehen müssen (obj.) und können (subj.) (unbewusste Fachlässigkeit), oder ihn vorhersieht,  aber darauf vertraut, er werde nicht eintreten (bewusste Fahrlässigkeit).

 

Beispiel 1:  Jupp, durch dröhnende Rockmusik aus seinem Lautsprecher abgelenkt,
überfährt mit seinem Porsche das Stoppschild an einer Bundesstraße. Der vorfahrtsberechtigte Moritz versucht auszuweichen, verliert die Gewalt über sein Fahrzeug und verunglückt tödlich.

 

Beispiel 2:  Jäger Hubert, der auf ein Reh schießen will, trifft versehentlich den Spaziergänger Wurzelsepp und verletzt ihn am Arm.

 

Beispiel 3:  Der Computerfreak Ingo-Bert-Martin (IBM) möchte sich ein eigenes Bild über die „Wahrscheinlichkeit von Handlungen“ machen. Zu diesem Zweck wirft er von der Autobahnbrücke mit verbundenen Augen drei Steine in regelmäßigen Zeitabständen von 15 Sekunden auf die vielbefahrene Autobahn. Dabei vertraut er darauf, dass er keinen Pkw-Fahrer treffen wird, und sagt sich: „Hoffentlich passiert nichts.“ Der zweite Stein trifft.

 

Beispiel 4:  Die beiden Rocker Irock und Chayenne spielen auf der Autobahnbrücke mit einem kleinen Pflasterstein Fußball. Dabei tritt Irock mit seinen eisenbeschlagenen Lederstiefeln so fest gegen den „Ball“, dass dieser durch die Gitterstäbe des Brückengeländers auf die Autobahn fällt und einen Pkw trifft.

 

Für den Aufbau gilt zunächst Folgendes: Da zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ein Stufenverhältnis besteht (Fahrlässigkeit ist die eindeutig leichtere Schuldverwirklichung), ist stets im Zweifel – aber nur dann – mit dem Vorsatzdelikt zu beginnen (also: § 212 StGB vor § 222 StGB; § 223 StGB vor § 229 StGB). Wird der Vorsatz verneint, ist die Vorsatzdelikts-Prüfung abzubrechen und auf das Fahrlässigkeitsdelikt umzuschalten.

 

Da im Beispiel 1 und Beispiel 2 für Jupp bzw. Hubert eine vorsätzliche Tötung bzw. Körperverletzung ganz offensichtlich von vornherein ausscheidet, kommt eine fahrlässige Tötung bzw. fahrlässige Körperverletzung in Betracht, die gem. §§ 229, 222 StGB strafbar sind (vgl. § 15 StGB). Bei der Prüfung einer Fahrlässigkeitstat geht man zunächst vom klassischen Deliktsaufbau aus ( Struktur-aufbau einer Straftat). Also: Tatbestand – Rechtswidrigkeit – Schuld. Jupp bzw. Hubert müssten mithin zunächst den Tatbestand des § 222 bzw. § 229 StGB verwirklicht haben. Bevor erörtert wird, was alles zum Tatbestand dieser Fahrlässigkeits-Straftaten gehört, soll zunächst geklärt werden, was Fahrlässigkeit bedeutet. 

 

Der komplizierte Begriff der Fahrlässigkeit, der im StGB an keiner Stelle aufgefüllt wird, zerfällt in vier Komponenten, die kumulativ zusammentreffen müssen:

 

  1. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung

„… Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen … verpflichtet ist …“

 

Hier muss man fragen: Wie hätte sich ein besonnener und einsichtiger Durchschnittsmensch in der konkreten Lage und der sozialen Rolle des Täters verhalten? Eine Indizwirkung für die Verletzung einer objektiv gebotenen Sorgfaltspflicht beinhaltet regelmäßig der Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift im weitesten Sinne: StVG, StVO, BauO, StVZO, GewO, Unfallverhütungsvorschriften, Sicherheitsvorschriften. Hinzu kommen zahllose geschriebene und ungeschriebene Sorgfaltsregeln wie z.B. Jagdregeln, Sportregeln oder „Verkehrsregeln“ auf Skipisten.

In den Beispielen 1 und 2 liegt ein Verstoß des Jupp gegen die StVO vor; Hubert verstößt gegen die Jagdregel, in einer Situation, in der Unbeteiligte gefährdet werden können, nicht zu schießen.

 

Im Beispiel 3 und 4 haben IBM und Irock ebenfalls Sorgfaltspflichten verletzt. Ergeben diese sich nicht bereits aus „Umständen“ wie eben Rechtsvorschriften (StVO), aber auch aus Verträgen oder Berufspflichten (zu denken ist an Jäger, Eisenbahn, Atomkraftwerke, Bergwerke, Ärzte und Polizei), so ist der Maßstab für die gebotene Sorgfalt ein Verhalten, das von einem einsichtigen und besonnenen Menschen in der gleichen Lage des Täters verlangt werden kann. Auf einer nur durch Eisenstäbe gesicherten Autobahnbrücke hätte aber ein solcher Mensch nicht Fußball gespielt. Dies zu erkennen war Irock auch aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse in der Lage. Irock handelte daher ebenfalls fahrlässig.

 

  1. Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung

„… und (nach) seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen in der Lage ist …“

Jetzt wird der Täter ganz persönlich „angesehen“ und geprüft, ob man ihm speziell und individuell die Sorgfaltswidrigkeit vorwerfen kann. Dabei sind Bildung und Intelligenz ebenso zu berücksichtigen wie besondere Umstände, z.B. Affekt- oder Stresssituationen, Schrecken und Verwirrung.

 

Beispiel 5:  Der Fahrschüler F verliert während seiner zweiten Fahrstunde an einer verkehrsdichten Kreuzung im Berufsverkehr die Nerven und rammt ein anderes Fahrzeug, dessen Fahrer schwer verletzt wird.

 

Zu den Beispielen 1 und 2: Jupp und Hubert waren individuell jeweils imstande, die objektive Sorgfaltspflicht zu erkennen und zu erfüllen. (So ist es fast immer.)

 

  1. Objektive Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs und des Erfolges

„… den Erfolg nicht vorhersieht, den er hätte vorhersehen müssen …“

Vorhersehbar ist der Erfolg, wenn er nach allgemeiner Lebenserfahrung zwar nicht unbedingt als regelmäßige, so doch zumindest als nicht ungewöhnliche Folge erwartet werden konnte.

Zu den Beispielen: Das war hier eindeutig so.

 

  1. Subjektive Vorhersehbarkeit

„… den er hätte vorhersehen … können …“

Zu den Beispielen 1 und 2: Jupp und Hubert waren nach ihren persönlichen Verhältnissen, Fähigkeiten und Kenntnissen in der Lage, den eingetretenen Erfolg vorauszusehen.

Jupp und Hubert handelten also beide fahrlässig.

 

Mit der Darstellung der vier Fahrlässigkeitskomponenten ist die Fahrlässigkeitsdefinition aber noch nicht gänzlich ausgeschöpft. Es fehlt noch ihr Schluss: 

„… oder ihn vorhersieht, aber darauf vertraut, er werde nicht eintreten.“ 

Die Fahrlässigkeit kennt nämlich – wie auch der Vorsatz – zwei Spielarten: die bewusste und die unbewusste Fahrlässigkeit. Auch bei diesen Schuldformen kommt es auf die Kategorien „Wissen“ und „Wollen“ an.

 

Die exakte Grenzlinie zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz ist nur sehr schwer zu ziehen. Hätte im Beispiel 3 IBM den Erfolg der Tötung eines Menschen billigend in Kauf genommen, dann käme er als Mörder in Betracht, da er heimtückisch einen Menschen getötet hat. Hätte er dagegen den tatbestandlichen Erfolg zwar für möglich gehalten, aber sorgfaltswidrig darauf vertraut, er werde nicht eintreten, könnte er nur wegen fahrlässiger Tötung abgestraft werden.

Im strafrechtlichen Alltag kommt man mit folgender Abgrenzungsformel aus:

 

Bewusste Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Täter sich sagt: „Es wird schon gut gehen.“

Bedingter Vorsatz liegt vor, wenn der Täter sich sagt: „Na, wenn schon.“

 

Im Beispiel 3 kann IBM danach nur wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB bestraft werden, wobei sich der Grad der Fahrlässigkeit in der Höhe des Strafmaßes auswirken muss. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber den Strafrahmen in § 222 StGB auch sehr, sehr weit gefasst.

 

Ein anderes einprägsames Beispiel 6:  Der Jäger J sitzt in der Morgendämmerung auf seinem Hochsitz im Anschlag auf Wildschweine. Er sieht im schlechten Büchsenlicht einen schwarzen, sich bewegenden Fleck und drückt ab. Tödlich getroffen sinkt die Pilzsammlerin P ins Gras.

 

Auch hier kommt es entscheidend darauf an, mit welcher Vorstellung J den Schuss ausgelöst hat. 

 

Man kann sich vorstellen, welche Schwierigkeiten die Gerichte bei der Abgrenzung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz haben. 

Jetzt zu der Frage, warum vorstehend aus der normalen Prüfungsreihenfolge ausgebrochen wurde und zunächst die Schuldform „Fahrlässigkeit“ erörtert wurde, bevor der Tatbestand geprüft wurde. Antwort: Weil bei dem Fahrlässigkeitsdelikt für den Tatbestand ausnahmsweise eine vom Normalfallprüfungsschema abweichende Prüfungsreihenfolge gilt!

 

Beispiel 7:  LKW-Fahrer Jupp Schmitz fährt ordnungsgemäß mit seinem LKW auf der Landstraße, als plötzlich und unvermittelt der Wilderer Wolf aus dem Gebüsch herausspringt. Wolf wird von Jupp tödlich überfahren.

 

  1. Tatbestand
  2. Handlung: Überfahren
  3. Erfolg: Tod
  4. Kausalität i.S.d. Äquivalenztheorie: Ja

Ergebnis: Jupp handelte tatbestandsmäßig.

  1. Rechtswidrigkeit

III. Schuld Die Fahrlässigkeit müsste insgesamt in ihrer Komplexität als zweite Schuldform definiert und der Sachverhalt ihr zugeordnet werden. Da Jupp schon keine Sorgfaltspflichtverletzung begangen hat, scheidet ein fahrlässiges Verhalten aus.

Ergebnis: Jupp bliebe straflos.

 

Heute ist dagegen anerkannt, dass allein die kausale Herbeiführung eines tatbestandsmäßigen Erfolges zur Tatbestandserfüllung der Fahrlässigkeitsdelikte nicht mehr ausreicht, sondern die objektive Sorgfaltspflichtverletzung und die objektive Vorhersehbarkeit zum Tatbestand gehören. Der Grund liegt in Folgendem: Die Fahrlässigkeit ist nicht nur eine Form der Schuld (so klassisch), sondern beinhaltet einen ganz besonderen Unrechtstypus, dessen Verhaltensunrecht gerade durch die Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht bei objektiver Vorhersehbarkeit charakterisiert wird. Der heutigen Prüfung muss das heute vorherrschende Verständnis der Fahrlässigkeitsdelikte zu-grunde gelegt werden, nach dem die Fahrlässigkeit Unrechts- und Schuldelemente vereinigt (Doppelfunktion der Fahrlässigkeit). Die Außerachtlassung der objektiv erforderlichen Sorgfalt wird deshalb ebenso wie die objektive Vorhersehbarkeit als schon dem Tatbestand zugehörig behandelt, während die beiden verbleibenden subjektiven Komponenten als Fahrlässigkeitsschuld weiterhin zur Schuld zählen. Diese moderne Differenzierung kommt ja auch dem gesetzlichen Tatbestand entgegen (vgl. § 222 StGB: „… durch Fahrlässigkeit … verursacht …“; § 229 StGB: „… durch Fahrlässigkeit … verursacht …“).

 

  1. Tatbestand
  2. Handlung
  3. Erfolg
  4. Kausalität
  5. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
  6. Objektive Vorhersehbarkeit
  7. Neu!! Zurechnungszusammenhang (Beruht der Erfolg gerade auf der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung?)
  8. Neu!! Schutzzweck der Norm (Will die Sorgfaltsnorm gerade diesen Erfolg verhindern?)
  9. Rechtswidrigkeit

III. Schuld

  1. Schuldfähigkeit
  2. Rest der Fahrlässigkeitsschuld
  3. Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
  4. Subjektive Vorhersehbarkeit
  5. Nichtvorliegen von Entschuldigungsgründen
  6. Neu!! Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens
  7. Unrechtsbewusstsein

Zu I.6.  Neu!! Zurechnungszusammenhang

 

Beispiel 8:  LKW-Fahrer Jupp fährt am Radfahrer Moritz in einem Abstand von 70 cm vorbei. Moritz wird vom LKW erfasst, gerät unter die Räder und ist sofort tot. Weil aber Moritz, wie sich herausstellt, stark angetrunken war, wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch getötet worden, wenn Jupp den gebotenen Sicherheitsabstand von 1 m bis 1,50 m (vgl. § 5 StVO) eingehalten hätte.

 

Bei den meist als Erfolgsdelikten ausgestalteten Fahrlässigkeitstatbeständen muss nach Rspr. und Lit. neben die Kausalität und die objektive Sorgfaltspflichtverletzung die objektive Zurechnung des Erfolges als tatbestandliches Korrektiv für die aufgrund der Äquivalenztheorie zu weite Kausalitätslehre treten. Der Erfolg muss seinen Grund gerade in der Sorgfaltspflichtverletzung durch den Täter haben. Faustformel: Wäre der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten, entfällt die Tatbestandsmäßigkeit wegen fehlenden (Pflichtwidrigkeits-)Zurechnungszusammenhangs. Selbst die Rechtsprechung, die ein solches Kriterium im Gegensatz zu weiten Teilen in der Literatur bei Vorsatzdelikten nicht anerkennt, zieht hier mit und erkennt die Notwendigkeit eines über die bloße naturgesetzliche Kausalität hinausgehenden Zusammenhangs an. Folglich entfällt für Jupp bereits der Tatbestand des § 222 StGB. Dies übrigens auch dann, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass Moritz selbst bei Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes zu Tode gekommen wäre. Eben! In dubio pro reo!

 

Zu I.7.  Neu!! Schutzzweck der Norm

 

Beispiel 9:  Moritz fährt bei Rot über die Kreuzung. Drei Straßen weiter überfährt er den Radfahrer Otto, der plötzlich und unvorhersehbar in die Fahrbahn des Moritz wechselt. Otto stirbt.

 

  1. Tatbestand
  2. Handlung: Überfahren
  3. Erfolg: Tod
  4. Kausalität: Das Überfahren der Kreuzung bei Rot kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Tod des Otto entfiele. Der unvorhergesehene Fahrbahnwechsel spielt keine Rolle, da alle Bedingungen gleich sind.
  5. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung er-gibt sich ohne weiteres aus dem Verstoß gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 StVO (Rot!).
  6. Objektive Vorhersehbarkeit

Es liegt nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, dass ein das Rotlicht einer Ampel missachtender Fahrer später einen Unfall verursacht, der nicht geschehen wäre, wenn er gehalten hätte.

  1. Objektiver (Pflichtwidrigkeits-)Zurechnungszusammenhang

Der Erfolg des Todes wäre bei ordnungsgemäßem Halten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten.

  1. Neu! Schutzzweck der Sorgfaltsnorm  

Wenn der Täter zwar gegen eine Sorgfaltsnorm verstoßen hat, der eingetretene Erfolg (Tod des Otto) jedoch nicht vom Schutzzweck dieser Norm (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 StVO) gedeckt wird, d.h. die Vorschrift nicht dazu dient (den Zweck hat), den Eintritt gerade dieses konkreten Erfolges zu verhindern, dann entfällt bereits der Tatbestand.

Der Tod des Otto ist hier unproblematisch nicht vom Schutzzweck des § 37 Abs. 2 Nr. 1 StVO gedeckt. Denn das Verbot, bei Rot über eine Kreuzung zu fahren, soll Unfälle im unmittelbaren Kreuzungsbereich verhindern, aber nicht dafür sorgen, dass ein Autofahrer eine andere Stelle erst später passiert.

Ergebnis: Tatbestand entfällt

 

Hier fehlt es bereits an einer objektiven Sorgfaltspflichtverletzung.

Gesamtergebnis: Freispruch

 

Zu III.4. Neu!!  Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens

 

Beispiel 10: Auf Anweisung seines Dienstherrn, eines Pferdedroschkenbesitzers in Wien, fährt der Fahrer mit einem unregierbaren Pferd; eine Weigerung hätte zum Verlust des Arbeitsplatzes geführt. Das Pferd geht durch und verletzt O. § 229 StGB? (Leinenfänger-Fall)

 

Beispiel 11: Vater V unterlässt die rechtzeitige Klinikunterbringung seines Kindes K, weil er sich durch dessen flehentliches Bitten sowie die Tatsache, dass seine Frau vor ein paar Tagen infolge schlechter ärztlicher Versorgung im selben Krankenhaus gestorben ist, davon abhalten lässt. Auf dem Weg zum nächstgelegenen Krankenhaus stirbt K. § 222 StGB?

 

Bei den Fahrlässigkeitsdelikten ist die „Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens“ ein neben den §§ 33, 35 StGB allgemein anerkannter und gesondert zu prüfender Entschuldigungsgrund, nämlich vorwiegend dann, wenn – wie im Leinenfängerfall des Reichsgerichts – keine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bestand (dann § 35 StGB), vielmehr der Fahrer um seine Arbeitsstelle fürchtete (Gefahr für Familienunterhalt). Bei Fahrlässigkeitstaten können eben bestimmte anormale Umstände dazu führen, dass die Einhaltung der normalen Sorgfaltspflicht unzumutbar ist (die engen Grenzen des § 35 StGB gelten dann nicht). Am Rande sei bemerkt, dass der „Leinenfänger-Fall“ heute bei bestehendem Kündigungsschutz anders zu entscheiden wäre; selbstverständlich ist es für einen LKW-Fahrer heute zumutbar, die Sorgfaltspflichten der StVO und StVZO zu beachten!! Das ändert aber nichts am richtigen Grundgedanken, dass die Unzumutbarkeit normgerechten Verhaltens, die den §§ 33, 35 StGB zugrunde liegt, bei §§ 222, 229 StGB eine besondere Rolle spielen kann.

 

Drei Besonderheiten bei der Fahrlässigkeit:

 

 

Beispiel 12:  A trifft den in einer Entwöhnungskur befindlichen Fixer B und schlägt diesem vor, gemeinsam Heroin zu spritzen. B willigt ein. A gibt ihm die Spritze, obwohl B stark alkoholisiert ist; B stirbt an der Injektion.

 

Eine fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB ist hier zu verneinen, da eine Strafbarkeit erst dort beginnt, wo der sich Beteiligende (hier A) kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfasst als der sich selbst Gefährdende (wenn etwa der über seine Infektiosität aufgeklärte aidsinfizierte Jupp mit der nicht aufgeklärten Emma unabgeschirmt schläft). Hier musste aber B als ehemaliger Fixer um die Gefahren eines „Schusses“ in alkoholisiertem Zustand wissen. Er handelte mithin eigenverantwortlich selbstgefährdend. Damit entfällt die objektive Zurechenbarkeit des eingetretenen Todes für A.