ist – grob gesprochen – die Fähigkeit, die Verbote und Gebote des Rechts erkennen zu können und sich von dieser Erkenntnis in normaler Weise bestimmen und leiten zu lassen. Die Schuldunfähigkeit schließt die Strafbarkeit aus, lässt jedoch die Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung unberührt. (➞ Zweispurigkeit des Strafrechts) Die verminderte Schuldfähigkeit stellt lediglich einen fakultativen Strafmilderungsgrund dar. Bei einem Erwachsenen kann zunächst ohne weiteres von Schuldfähigkeit ausgegangen werden. Sie braucht deshalb in einer Klausur auch nicht positiv festgestellt zu werden. Die Schuldunfähigkeit ist die Ausnahmesituation: Prüfungen in dieser Richtung sind nur erforderlich, wenn sich Anhaltspunkte aus dem Sachverhalt ergeben. So wie die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit indiziert, indizieren Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit die Schuld.

Beispiel: Die Studentin Emma Piel wird auf ihrem Heimweg von der Hochschule gegen 22.00 Uhr von dem 17-jährigen Bauhilfsarbeiter B, von dem 13-jährigen Gymnasiasten G und von dem geistesschwachen 25-jährigen S vergewaltigt. Beim 17-jährigen B stellt der Jugendpsychiater verzögerte Reife wegen Erbschäden und Verwahrlosung fest. Seine seelische Reife entspricht gerade der eines 12-jährigen. Beim 13-jährigen G stellt derselbe Gutachter die geistige und seelische Entwicklung eines Erwachsenen fest. Er bescheinigt dem G außerdem einen Intelligenzquotienten von 140 (den nur wenige Menschen besitzen). Zu S erklärt der Sachverständige, dieser leide unter Wahnvorstellungen. Er habe erklärt, vom Erzengel Gabriel im Traum den Auftrag erhalten zu haben, die Frauen, die alles vergessen hätten, durch solche Taten an Küche, Kind und Kirche zu erinnern.

 

Tatbestandlich liegt Vergewaltigung gem. § 177 Abs. 1 StGB vor, begangen in Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 StGB. Die Rechtswidrigkeit ist durch die Tatbestandserfüllung indiziert, da kein Rechtfertigungsgrund in Betracht kommt.

Bedenken ergeben sich gegen die ➞ Schuld der drei Täter. Für die Frage, ob der Täter im Zeitpunkt der Tatbegehung schuldfähig ist, ist zunächst das Alter (§ 19 StGB), sodann die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit (§ 20 StGB) maßgebend.

 

 

 

 

Auch wenn vom Alter her Schuldfähigkeit zu bejahen ist, kann sie bei schweren geistigen und seelischen Störungen nach § 20 StGB entfallen (oder nach § 21 StGB vermindert sein). § 20 StGB beruht auf der gemischt-biologisch-psychologischen Methode, bei der aus zwei Merkmalgruppen jeweils ein Merkmal kumulativ erfüllt sein muss:

 

Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (Fehlen der Einsichtsfähigkeit)

Unfähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln (Fehlen der Steuerungsfähigkeit)

Krankhafte seelische Störung

Tiefgreifende Bewusstseinsstörung

Schwachsinn

Andere schwere seelische Abartigkeiten

 

Aus jeder der beiden Gruppen muss mindestens ein Merkmal erfüllt sein. Liegt eine dieser Merkmalkombinationen vor, so entfällt der Schuldvorwurf – der Täter bleibt im dritten Sieb des Deliktsaufbau hängen. Mit der fehlenden Schuld entfällt die Strafe. Die andere Art der strafrechtlichen Reaktionen, nämlich die Maßregeln der Besserung und Sicherung, kann allerdings auch gegen Schuldunfähige verhängt werden. Für Geisteskranke und Schwachsinnige kommt etwa eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht (vgl. §§ 61 Nr. 1, 63 StGB).

 

 

Beispiel: Beim LSD-Trip hat Otto die Vision, er besäße goldene Schwingen. Mit den Worten „Komm Emma, lass uns fliegen“ stürzt er sich jubilierend vom Balkon und zieht seine Freundin Emma mit in die Tiefe. Beide werden schwer verletzt.

 

Eine Bestrafung wegen einer in Betracht kommenden gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Ziff. 5 StGB in der Form einer das Leben gefährdenden Behandlung) kann nicht erfolgen. Eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung kann entstehen durch Volltrunkenheit (über 3 ‰ BAK), Rauschgifteinwirkung, Medikamentenmissbrauch, Schock, Schlaflosigkeit, Hypnose, aber auch durch Übermüdung. Somit fällt Otto unter § 20 StGB, kann mithin nicht bestraft, allerdings gem. §§ 61 Nr. 2, 64 StGB in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden.

 

Für unseren Ausgangsfall ergibt sich, dass B wegen verzögerter Reife gemäß § 3 JGG schuldunfähig ist und mithin nicht bestraft werden kann. Auch G scheidet für eine Bestrafung aus. Bis zum 14. Lebensjahr gilt er als absolut schuldunfähig gem. § 19 StGB, mag er auch noch so reif und intelligent sein. Bei dem volljährigen S kann Schuldunfähigkeit unter den Voraussetzungen des § 20 StGB bejaht werden. Dem S fehlt infolge seiner Wahnvorstellungen (medizinisch-biologisches Element) das Einsichtsvermögen in das Unerlaubte seiner Tat (psychologisches Element).

 

Beachten Sie bitte: Stellt sich die Schuldunfähigkeit des S erst nach Eröffnung des ➞ Hauptverfahrens heraus (➞ Zwischenverfahren), so wird dieses durchgeführt. Denn die öffentliche Klage (Anklage) wegen Vergewaltigung kann nach Eröffnung des Hauptverfahrens, womit die Rechtshängigkeit eintritt, nicht mehr zurückgenommen werden (vgl. § 156 StPO). Es kommt also nunmehr zur Hauptverhandlung. In ihr ist S allerdings durch Urteil freizusprechen, da die Schuld fehlt. Das Gericht hat aber zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 61 Nr. 1 StGB) gegeben sind. Liegen sie vor, so muss das Gericht diese Maßnahme neben dem Freispruch im Urteil anordnen.

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