ist die Lehre von der Strafbarkeit wegen Nichtvornahme eines gebotenen Tuns im Gegensatz zu der Strafbarkeit eines aktiven Handelns i.S. eines Begehungsdelikts (➞ Deliktsarten des StGB). Das Strafrecht stellt zum Schutz der Rechtsgüter in der Regel Verbote auf und gibt in den Tatbeständen des besonderen Teils des StGB eine Beschreibung derjenigen Handlungen, die Verbotsnormen aufstellen. Ausnahmsweise kann aber auch ein Nichttun zur Strafbarkeit führen, wenn der Täter einer Gebotsnorm zuwider ein Handeln unterlässt.

 

  1. Begehungsdelikte:

Beispiel 1: A ersticht B. A handelt der Verbotsnorm zuwider „Du sollst nicht töten“, vgl. § 212 StGB.

 

Beispiel 2: A entnimmt der Kasse heimlich 1.000 Euro. A handelt der Verbotsnorm zuwider „Du sollst nicht stehlen“, vgl. § 242 StGB.

 

Beispiel 3: A vergewaltigt die 17-jährige Ottilie hinter dem Bahndamm. A handelt der Verbotsnorm zuwider „Du sollst keinen Beischlaf erzwingen“, vgl. § 177 StGB.

 

In allen drei A-Fällen führt der Verstoß gegen ein Verbot unmittelbar zu einer möglichen Bestrafung, indem die A-Täter den jeweiligen gesetzlichen Tatbestand durch ein positives Tun verwirklichen. Man nennt diese Delikte Begehungsdelikte (Kommissivdelikte, lat.: committere, begehen).

Das Strafrecht stellt aber in wenigen Ausnahmefällen auch Gebote auf, gebietet also ein aktives Tun und nimmt daher die Nichtbefolgung des Gebotes, also ein Unterlassen, selbst unmittelbar in den Tatbestand auf.

 

  1. Echte Unterlassungsdelikte:

Beispiel 1: Vor den Augen des Nachbarn B kommt Susi mit ihrem Fahrrad zu Fall und bleibt bewusstlos auf der Fahrbahn liegen. B geht ungerührt seines Weges, weil er die „freche Göre“ noch nie leiden konnte. B handelt der Gebotsnorm zuwider „Du sollst bei Unglücksfällen Hilfe leisten“, vgl. § 323c StGB.

 

Beispiel 2: Vater B erfährt glaubhaft davon, dass sein Sohn S seine ehemalige Freundin F aus Eifersucht töten will, weil S die neu liierte F keinem anderen Mann gönnt. B unternimmt nichts, weil er schon immer gegen die nicht „standesgemäße“ Beziehung war. B handelt der Gebotsnorm zuwider „Du sollst geplante Verbrechen anzeigen“, vgl. § 138 Abs. 1 StGB. (Der zwischen Vater und Sohn bestehende Interessenkonflikt wird gem. § 139 Abs. 3 StGB zuungunsten des Vaters entschieden.)

 

Beispiel 3: Partygast B, der wieder einmal einen über den Durst getrunken hat und nach fremden Frauen „grapscht“, bleibt trotz mehrfacher Aufforderung des Hausrechtsträgers, sich zu entfernen, locker in seinem Sessel sitzen. B handelt der Gebotsnorm zuwider „Du sollst dich aus dem Haus entfernen, wenn der Hausrechtsträger dich dazu auffordert“, vgl. § 123 Abs. 1  2. Alt. StGB.

 

In diesen drei B-Fällen führt der Verstoß gegen ein gesetzlich fixiertes Gebot unmittelbar zu einer möglichen Bestrafung, weil die Täter den jeweiligen gesetzlichen Tatbestand durch ein Unterlassen verwirklichen. Man nennt diese Delikte echte Unterlassungsdelikte (Omissivdelikte, lat.: omittere, unterlassen); echte deshalb, weil es Deliktstatbestände sind, in denen der Gesetzgeber selbst Gebote zugrunde legt, und die daher unmittelbar als tatbestandliche (Nicht-)Handlung ein Unterlassen enthalten. In den ersten drei Fällen des A gebietet also das Gesetz ein Nichttun und bestraft das Tun.  In den drei Fällen des B gebietet das Gesetz ein Tun und bestraft das Nichttun. (In § 123 Abs. 1 StGB kann man in den beiden Alternativen des „Eindringens“ und des „Sich Nichtentfernens“ den Gegensatz sehr schön erkennen.)

 

  1. Unechte Unterlassungsdelikte:

Beispiel: Die ledige Mutter Emma Piel erstickt ihr vier Wochen altes Kind mit dem Kopfkissen, um es loszuwerden. Emma tut etwas ihr Verbotenes, was zum Tode des Kindes führt. Strafbar nach § 211 StGB als Begehungsdelikt durch aktives Tun.

 

Beispiel: Die ledige Mutter Ottilie Huber lässt ihr vier Wochen altes Kind verhungern, um es gleichermaßen loszuwerden. Ottilie unterlässt etwas ihr Gebotenes, was ebenfalls zum Tode des Kindes führt. Ist Ottilie strafbar nach § 211 StGB durch Nichtvornahme eines ihr als Mutter gesetzlich gebotenen Tuns?

 

Ein Verstoß gegen eine Verbotsnorm ist nun aber nicht nur durch positives Tun denkbar, sondern auch durch Unterlassen. In den beiden Eingangsbeispielen handelt Ottilie Huber, die ihr Kind verhungern lässt, sicherlich der Verbotsnorm „Du sollst nicht töten“ (§ 212 StGB) ebenso zuwider wie Emma Piel, die ihren Säugling erstickt.

Gleiches gilt für Vater Jupp Schmitz, der seinen 3-jährigen Sohn in den Rhein stößt, damit er ertrinkt. Er handelt ebenso der Verbotsnorm des § 212 StGB (Totschlag) zuwider wie derjenige Vater, der teilnahmslos zusieht, wie sein von selbst in den Rhein gefallener Sohn ertrinkt.

Bei derartigen Unterlassungsdelikten spricht man von unechten Unterlassungsdelikten; unecht deshalb, weil hier im Gegensatz zu den echten Unterlassungsdelikten ja nicht ein Gebot, sondern ein Verbot übertreten wird.

Beispiel: Vater Jupp Schmitz geht mit seinem 5-jährigen Sohn Max an den nahe gelegenen Fühlinger See zum Schwimmen. Er beobachtet, wie Max plötzlich wegsackt. Obwohl Jupp erkennt, dass Max sofort Hilfe braucht, unternimmt er absichtlich nichts. Max ertrinkt.

 

Jupp könnte sich dadurch, dass er Max nicht zu Hilfe gekommen ist, nicht nur wegen § 323 c StGB, sondern  wegen Totschlags gem. § 212 StGB strafbar gemacht haben.

Das setzt voraus, dass er einen Menschen getötet hat. Durch aktives Tun hat Jupp Max nicht getötet. Er könnte aber einen Totschlag, begangen durch Unterlassen gem. §§ 212, 13 StGB, verwirklicht haben.

Unechte Unterlassungsdelikte beruhen gesetzestechnisch auf einer  ➞ Analogie zu den Begehungsdelikten. Diese Analogie zuungunsten des Täters ist ausnahmsweise zulässig, weil das Gesetz sie selbst regelt. Sie wird nach § 13 StGB im Wesentlichen über die sogenannte Garantenklausel hergestellt. Nach § 13 Abs. 1 StGB ist derjenige, der es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, nur dann strafbar, „wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“. Die Lücke der Begehungsdelikte – § 211 StGB kann man z.B. nur durch aktives Töten verwirklichen – wird im Hinblick auf das Unterlassen über diese rechtliche Einstandspflicht geschlossen. Rechtlich dafür einzustehen, dass der Erfolg – d.h. die Verwirklichung des Tatbestandes – nicht eintritt, hat der sog. Garant. Die Garanteneigenschaft ist also Voraussetzung dafür, dass der Tatbestand eines unechten Unterlassungsdeliktes erfüllt werden kann, d.h., dass der Unterlassende aufgrund einer besonderen Schutzpflicht (➞ Garantenstellung) zur Erfolgsabwendung verpflichtet ist.

Wann ist man aber ein Garant? Wann hat man eine solche besondere Schutzpflicht?

Woraus ergibt sich nun eine solche Rechtspflicht? Sie ergibt sich aus überlieferten besonderen Umständen, die als ungeschriebene Tatbestandsmerkmale der unechten Unterlassungsdelikte anzusehen sind. Herkömmlicherweise werden in der ständigen Rechtsprechung von alters her vier Gruppen unterschieden, aus denen eine Garantenstellung begründet werden kann (Garantenquartett).

  1. Garantenstellung aus Rechtsvorschrift

Die drei wichtigsten Rechtsvorschriften, aus welchen sich eine Garantenstellung für das Rechtsgut ergeben kann, sind familienrechtlicher Natur.

Diese Sorgepflicht erstreckt sich insbesondere auf das Leben und die Gesundheit ihrer Kinder.

 

Beispiel: Wenn die Rabenmutter Ottilie Huber ihren Säugling verhungern lässt, so ist das Delikt der §§ 212, 13 StGB in Form des unechten Unterlassungsdeliktes zu prüfen. Die Garantenstellung der Mutter ergibt sich aus dem Gesetz: §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB.

 

 

Beispiel: Wenn der Ehemann bei Heimwerkerarbeiten mit der Hand in die Kreissäge gerät, so hat sich die dies beobachtende Ehefrau wegen Totschlags gem. §§ 212, 13 StGB, begangen durch Unterlassen, zu verantworten, wenn sie ihn nicht vor dem Tod durch Verbluten bewahrt, also den Tötungserfolg nicht abwendet. Ihre Garantenstellung ergibt sich aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB.

 

 

Beispiel: Wenn der aus dem elterlichen Haus geworfene Sohn S mit Hilfe eines noch in seinem Besitz befindlichen Zweitschlüssels die Wohnung seiner Eltern betritt, um noch einige Sachen abzuholen und dabei den von einem Stromschlag getroffenen Vater schwer verletzt am Boden liegen sieht, ihm aber aus Rache für das ihm vermeintlich angetane Unrecht nicht hilft, so hat sich S wegen §§ 212, 13 StGB zu verantworten. Seine Garantenstellung folgt aus der Rechtsvorschrift des § 1618a BGB.

 

Da im Beispielsfall Vater Jupp Schmitz als Garant für das Leben seines Kindes gem. §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB anzusehen ist, ist er wegen Totschlags, begangen durch Unterlassen, strafbar.

 

  1. Garantenstellung aus Vertrag

Eine sehr bedeutsame Rolle spielt in der Praxis die Garantenstellung aus Vertrag, wobei der eingebürgerte Begriff „Vertrag“ besser durch „tatsächliche Pflichtenübernahme“ ersetzt würde, da es nicht auf die zivilrechtliche Wirksamkeit des Vertrages ankommt, sondern auf die faktische Übernahme der Pflicht. Grundlage der Garantenstellung aus tatsächlicher Pflichtenübernahme ist das Vertrauen, das demjenigen entgegengebracht wird, der ein Rechtsgut tatsächlich in seine Obhut nimmt.

 

Beispiel: Das Kindermädchen Maxi ist angestellt worden und soll am 1.10. seine Stellung antreten. Es kommt aber erst am 3.10. Am 2.10. spielt das Kind, auf das Maxi aufpassen sollte, mit einem Nagel und erhält beim Versuch, mit dem Nagel in die Steckdose zu gelangen, einen tödlichen Stromschlag.

 

Da eine vorsätzliche Herbeiführung des Erfolges offensichtlich ausscheidet, kommt eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung, begangen durch Unterlassen, gem. §§ 222, 13 StGB in Betracht. Eine Garantenstellung kann sich für Maxi aus Vertrag (§ 611 BGB – Dienstvertrag) ergeben. Allein auf den Vertragsschluss kann es aber nicht ankommen; der bloße Vertragsbruch ist strafrechtlich irrelevant. Entscheidend ist, dass die vertraglichen Pflichten tatsächlich (faktisch) aufgenommen worden sind. Da durch den Vertragsschluss allein eine Schutzfunktion für das Leben und die Gesundheit des Kindes noch nicht begründet wurde und Maxi die tatsächliche Obhut noch nicht ausgeübt hatte, hat sie auch noch keine Garantenstellung übernommen. Sie kann daher auch nicht wegen fahrlässiger Tötung, begangen durch Unterlassen, bestraft werden. Umgekehrt: Hätte dagegen Maxi, die als 16-Jährige ohne Einwilligung ihrer Eltern den Vertrag geschlossen hatte, ihre Pflichten tatsächlich am 1.10. aufgenommen und wäre nunmehr das zu beaufsichtigende Kind am 2.10. tödlich verunglückt, so wäre sie wegen fahrlässiger Tötung, begangen durch Unterlassen (als Jugendliche gem. § 1 Abs. 2 JGG) zu bestrafen, da sie die tatsächliche Obhut ausgeübt hatte. Auf die zivilrechtliche Wirksamkeit des Vertrages kommt es nicht an (zur zivilrechtlichen Lage vgl. §§ 108 Abs. 1, 107, 106, 2 BGB). Beispiele für die Garantenstellung aus tatsächlicher Pflichtenübernahme bieten die Übernahme einer ärztlichen Behandlung, die Führung eines Wanderers auf den Gipfel durch den Bergführer, die Beaufsichtigung im Schwimmbad durch den Bademeister oder Schwimmlehrer, die Verwaltung des Vermögens durch den Vermögensverwalter oder der Schutz der zu bewachenden Objekte durch die Sicherheitsdienste oder den Nachtwächter.

Dabei müssen noch die zeitlichen und gegenständlichen Grenzen der Pflichtenübernahme beachtet werden.

 

Beispiele:

 

  1. Garantenstellung aus vorausgegangenem rechtswidrigem Tun

Eine Garantenstellung kann sich weiterhin aus Gefahr begründendem Vorverhalten (sog. Ingerenz) ergeben. Grundlage für diese Garantenpflicht ist das alte Verbot, andere zu verletzen (lat.: neminem laede). Wer durch sein objektiv pflichtwidriges Verhalten eine nahe Gefahr für fremde Rechtsgüter herbeiführt, ist verpflichtet, den Eintritt des Erfolges abzuwenden; er ist ihr Garant.

 

Beispiel: Öltankwagenfahrer F erkennt auf einer befahrenen Landstraße durch seinen Rückspiegel, dass er Öl verliert, weil sich die Ölablassschraube gelockert hat. Als er sofort anhält, stellt er fest, dass eine ca. 100 m lange Ölspur entstanden ist. Ohne irgendwelche Warnvorrichtungen anzubringen oder das Öl zu beseitigen, setzt er sich in den Straßengraben und denkt: „Der nächste Motorradfahrer, der hier bremst, ist hin.“ Der Motorradfahrer Jupp stürzt auf der Ölspur zu Tode.

 

F wird wegen Totschlages, begangen durch Unterlassen, gem. §§ 212, 13 StGB angeklagt werden. Wäre F weitergefahren in dem Vertrauen, es werde schon nichts passieren, müsste er sich wegen fahrlässiger Tötung, begangen durch Unterlassen, gem. §§ 222, 13 StGB verantworten. Seine Garantenstellung ergibt sich zum einen aus einer Rechtsvorschrift, nämlich aus § 32 Abs. 1 S. 1, 2 StVO, zum anderen aber entscheidend aus einem Gefahr begründenden Vorverhalten (Ingerenz). F hat durch das Verschmutzen der Landstraße eine objektiv pflichtwidrige Handlung begangen, die eine nahe Gefahr für den Todessturz des Motorradfahrers herbeigeführt hat.

Um eine Ausuferung dieser Garantenhaftung zu vermeiden, sind hier freilich zwei Einschränkungen erforderlich.

Beispiel: In der kölschen Kneipe „Bei Alex“ schenkt der Wirt allabendlich Kölsch und Korn an seine Stammgäste aus, unter denen auch zahlreiche Autofahrer sind. Jupp Schmitz, einer der allabendlichen Gäste, verursacht auf der Heimfahrt mit seinem Pkw einen tödlichen Verkehrsunfall.

 

Durch das Ausschenken von Alkohol wird der Wirt nicht zum Garanten i.S. des § 13 StGB, da zwar eine nahe Gefahr, aber kein objektiv pflichtwidriges Verhalten vorliegt. Anders ist es aber dann, wenn der Gast erkennbar schon so betrunken ist, dass er nicht mehr verantwortlich handeln kann. Denn das Ausschenken an betrunkene Gäste ist nach dem Gaststättengesetz untersagt und mithin rechtswidrig.

Beispiel: Otto Meier befährt seelenruhig und vollkommen verkehrsgerecht die Autobahn von Soest nach Paderborn, als er von einem Geisterfahrer G gerammt wird. Mit dem Bemerken „Dem Idioten geschieht es gerade recht“ lässt er den schwer verletzten G auf der Autobahn liegen und fährt mit seinem noch fahrbereiten Pkw nach Hause. G stirbt.

 

Otto Meier ist mangels Pflichtwidrigkeit nicht Garant gegenüber dem allein verkehrswidrig handelnden Unfallopfer. Er ist nur nach § 323c StGB allgemein zur Hilfe verpflichtet.

Beispiel: Auf dem Nachhauseweg wird Franz Müller gegen 2.00 Uhr nachts von dem Räuber R mit einem Messer angegriffen. Er wehrt sich, indem er dem R in seiner Angst einen am Straßenrand liegenden Stein mit voller Wucht auf den Kopf schlägt. Franz Müller lässt den schwer verletzten R auf der einsamen Landstraße liegen, wo dieser verblutet. Franz Müller hätte R retten können, wenn er ihn verbunden oder zumindest im nächsten Ort die Polizei von dem Vorfall verständigt hätte. Ihm war aber der Tod des Räubers gleichgültig.

 

Nach BGHSt 23, 327 (lesenswerter Klassiker!) hat der durch Notwehr Gerechtfertigte keine Garantenstellung für das Leben des bei der Notwehrhandlung verletzten Angreifers, da für die Garantenstellung aus vorausgegangenem gefährdendem Tun eben ein pflichtwidriges Vorverhalten erforderlich ist.

 

  1. Garantenstellung aus konkreter Lebensbeziehung

Beispiel: Der 30-jährige ewige Student Oskar ist mitsamt seiner Ehefrau Ottilie von seinem reichen Bruder wegen „fortgesetzter Gammelei“ aus der gemeinsamen Wohnung gewiesen worden. Drei Tage später kommen beide gemeinsam in die Wohnung des Bruders zurück, um noch einige Sachen aus ihrem Zimmer abzuholen. Sie schließen die Wohnungstür mit einem noch in ihrem Besitz befindlichen Schlüssel auf und sehen den Bruder bewusstlos auf dem Boden liegen. Die neben ihm stehende Leiter und die offenen Drähte aus der Decke sagen ihnen sofort, dass der Bruder bei der Montage einer Deckenbeleuchtung einen elektrischen Schlag erhalten hat und von der Leiter gestürzt ist. Obwohl sie erkennen, dass der Bruder bzw. Schwager sofortiger Hilfe bedarf, lassen sie aus Verbitterung über das ihnen vom Bruder angetane vermeintliche Unrecht dem Schicksal seinen Lauf und entfernen sich. Der Bruder verstirbt an den Folgen des Stromschlages; eine Rettung wäre sicher erfolgt, wenn Oskar und Ottilie einen Arzt gerufen hätten.

 

Eine Garantenstellung von Oskar und Ottilie gegenüber dem Bruder bzw. Schwager ergibt sich hier weder aus Vertrag, noch aus vorangegangenem gefährdendem Tun. Eine Schutzpflicht zur Abwendung drohender Gefahren lässt sich im Verhältnis der Geschwister untereinander oder im Verhältnis von Schwager und Schwägerin auch nicht aus dem bürgerlichen Gesetz herleiten. (Es bestehen noch nicht einmal gegenseitige Unterhaltspflichten!) Es ist jedoch anerkannt, dass nach dem Grundgedanken der Rechtsordnung eine Garantenstellung auch aus einer konkreten Lebensbeziehung resultieren kann. Entweder man ist dem Träger des Rechtsgutes auf natürliche Weise, z.B. durch Verwandtschaft, verbunden (natürliche Verbundenheit) oder man steht ihm sonst sehr nahe (enge Gemeinschaftsbeziehung).

Da es bei der engsten und natürlichsten Gemeinschaft, nämlich der durch Blutsbande verbundenen Familie, nicht auf das Vorhandensein einer effektiven Familiengemeinschaft ankommt, war Oskar trotz des zwischen ihm und seinem Bruder bestehenden Streites und auch nach Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft Garant für das Leben seines Bruders. Oskar hat somit den Tatbestand des Totschlages, begangen durch Unterlassen, gem. §§ 212, 13 StGB rechtswidrig und schuldhaft erfüllt. Seine Garantenstellung resultierte aus einer konkreten Lebensbeziehung.

Bei Ottilie kommt es nunmehr darauf an, ob Sie sie als Schwägerin in den Kreis der Garanten, begründet durch konkrete Lebensbeziehung, einbeziehen. Bejahen Sie diese Frage, so ist auch Ottilie wegen Totschlages, begangen durch Unterlassen, strafbar. Verneinen Sie eine natürliche Verbundenheit zwischen Verschwägerten, müssen Sie eine unterlassene Hilfeleistung gem. § 323c StGB als echtes Unterlassungsdelikt untersuchen.

Bei Oskar tritt § 323 c StGB hinter §§ 212, 13 StGB zurück. Das echte Unterlassungsdelikt des § 323c StGB ist gegenüber einem in der Unterlassung liegenden unechten Unterlassungsdelikt subsidiär, wenn dieses unechte Unterlassungsdelikt auf den Erfolg gerichtet war, der sich aus dem Unglücksfall zu entwickeln drohte. Die sich aus der Garantenstellung ergebende weitergehende Pflicht, den Erfolg zu verhindern, schließt das auf bloße Hilfeleistung gerichtete Gebot des § 323c StGB notwendig ein.

Da bei Ottilie sämtliche Tatbestandsmerkmale des § 323 c StGB zutreffen, ein Rechtfertigungsgrund nicht ersichtlich ist und sie sowohl den Unglücksfall als auch die tatsächlichen Voraussetzungen der Hilfeleistungspflicht kannte, insbesondere wusste, dass das unterlassene Herbeirufen eines Arztes zur Hilfeleistung unbedingt erforderlich, möglich und zumutbar war, ist sie wegen § 323c StGB zu bestrafen.

 

In der Lehre wird im Unterschied zum „Garantenquartett“ der Rechtsprechung ein „Garantenduett“ vertreten.

 

 

Die Unterschiede sind von geringer Bedeutung – wie so oft bei einem Theorienstreit.

Aufbaufragen bei unechten Unterlassungsdelikten (➞ Schemata für die Klausuren)

 

Das allgemeine Prüfungsschema mit seinen drei Stufen der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld gilt prinzipiell auch für die unechten Unterlassungsdelikte, allerdings mit einigen Modifikationen beim Tatbestand.

 

Gehen wir zurück zu dem Vater Jupp Schmitz am Fühlinger See, der sein Kind absichtlich ertrinken lässt.

 

  1. Zweckmäßigerweise beginnen Sie die Prüfung der §§ 212, 13 StGB wie beim entsprechenden Begehungsdelikt mit der Feststellung, dass das Kind ertrunken und daher der Erfolg eines gesetzlichen Tatbestandes eingetreten ist.

„Zunächst müsste der Tod eines Menschen eingetreten sein.“

 

  1. Da der Tod aber nicht durch ein aktives Tun, sondern durch ein Unterlassen eingetreten ist, müssen Sie sich nunmehr mit der Nichtvornahme des erforderlichen Tuns beschäftigen.

„Der Tod müsste durch das Unterlassen des für Jupp erforderlichen Tuns eingetreten sein.“

Erforderlich ist stets das Richtige; das Falsche genügt nicht. Was das Richtige ist, ergibt sich aus dem konkreten Fall. So hätte sich der Vater nicht damit begnügen dürfen, an einer einsamen Stelle des Fühlinger Sees nur laut zu rufen oder zu Gott zu beten. Erforderlich ist ein solches Tun, das darauf gerichtet ist, den tatbestandsmäßigen Erfolg möglichst schnell und sicher abzuwenden. Es handelt sich hierbei um eine tatsächliche und nicht um eine rechtliche Frage.

 

  1. Gegebenenfalls (!) ist die (Nicht-) Handlung auf ihre Ursächlichkeit für den Erfolg zu überprüfen. Hier kommen Sie mit der Conditio-sine-qua-non-Formel nicht weiter: Ein Tun kann schlecht „hinweggedacht“ werden, da die Täter durch ein Unterlassen handeln. Die ➞ Kausalität muss deshalb durch ein „Hinzudenken“ des gebotenen Tuns ermittelt werden (sog. hypothetische Kausalität). Ein Unterlassen ist dann kausal für den Erfolg, wenn das gebotene Tun nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der konkrete Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (eben hypothetisch!) entfiele.

 

  1. Als Nächstes ist die tatsächliche Möglichkeit der Erfolgsabwendung zu untersuchen.

„Weiterhin müsste Jupp die Möglichkeit gehabt haben, den Tod des Kindes abzuwenden.“

Bliebe der Vater untätig, weil er vor Schreck über das Untergehen des Sohnes einen schweren Herzkollaps erlitten hätte, so entfiele die individuelle Handlungsmöglichkeit. Immer müssen Sie dabei aber nach möglichen anderen Handlungsalternativen fragen. (Der Gelähmte kann schreien, der Nichtschwimmer Hilfe holen.)

 

  1. Weiterhin muss das Tun zumutbar sein.

„Schließlich müsste Jupp die Rettung zumutbar gewesen sein.“

Was zumutbar ist, ergibt sich ebenfalls aus dem konkreten Fall. Die Zumutbarkeit ist ein regulatives Prinzip, das bei Unterlassungsdelikten bereits den Tatbestand begrenzt (strittig, nach anderer Auffassung die Schuld). In § 323c StGB hat die Zumutbarkeit konkret Ausdruck gefunden. Der dort formulierte Gedanke ist auf alle Unterlassungsdelikte zu übertragen. Wie aus § 323c StGB zu entnehmen ist, kommt es bei der Zumutbarkeitsprüfung darauf an, ob dem Täter bei Vornahme des erforderlichen und möglichen Tuns „erhebliche eigene Gefahr“ droht und ob ihm das Tun „ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten“ möglich ist.

Dem betrunkenen Autofahrer, der einen Unfall verursacht hat, ist die Hilfe für einen Schwerverletzten trotz der Gefahr eigener Strafverfolgung (§§ 222, 229, 316, 315 c StGB) zumutbar, weil die dem Opfer drohende Lebensgefahr die eigene Gefahr wesentlich überwiegt.

  1. Letztlich müssen Sie die Garantenstellung prüfen. Ob nach Rechtsprechung oder Literatur, ist Ihnen überlassen.

Der Schwerpunkt der Prüfung liegt erfahrungsgemäß immer auf dem Tatbestandsmerkmal der Garantenstellung.

 

Spezialprobleme bei den Unterlassungsdelikten

 

  1. Abgrenzung zum positiven Tun

 

Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen ist meistens unproblematisch.

Die Begehungstäterin Emma setzt einen Kausalverlauf aktiv in Gang.

Die Unterlassungstäterin Emma lässt einen anderweitig begonnenen Kausalverlauf geschehen, sie unternimmt nichts gegen ihn.

 

Beispiel: Der Fabrikant F hatte für seine Pinselfabrik chinesische Ziegenhaare importiert und diese trotz der Mitteilung des Händlers, dass er sie desinfizieren müsse, ohne vorherige Desinfektion an seine Arbeiterinnen weitergegeben. Vier Arbeiterinnen wurden durch Milzbrandbazillen, mit denen die Haare behaftet waren, angesteckt und starben an Milzbrand.

 

Das Ausgeben der infizierten Ziegenhaare könnte für eine Qualifikation als positives Tun sprechen (§ 222 StGB), die nicht vorgenommene Desinfektion für eine Einstufung als Unterlassen (§§ 222, 13 StGB). Die ganz h.M. grenzt in solchen Konstellationen danach ab, wo bei wertender (normativer) Betrachtung der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens liegt. Der lag im „Ziegenhaarfall“ eindeutig auf dem erfolgsverursachenden positiven Tun. Bei Fahrlässigkeitstaten – wie hier gem. § 222 StGB in vier Fällen – ist das jeweils denkbare Unterlassen nichts anderes als das für die „Fahrlässigkeit“ notwendig vorausgesetzte Unterlassen in Form des „Außerachtlassens“ derjenigen Sorgfalt, zu der der Täter verpflichtet ist. Ein Fahrlässigkeitsdelikt ohne Unterlassen gibt es gar nicht!

Bei Vorsatzdelikten gilt das gleiche Abgrenzungskriterium: Wo liegt der Schwerpunkt des strafrechtlichen Vorwurfs? Im Zweifel liegt der Schwerpunkt auf dem positiven Tun. Auch steckt in jedem Vorsatzdelikt ein Unterlassen. Wenn A seine Ehefrau B ermordet, dann hat er es unterlassen, sie nicht zu ermorden.

 

  1. Entsprechungsklausel (Gleichwertigkeitskorrektiv)

 

Nach § 13 Abs. 1 a.E. StGB soll das Unterlassen nur strafbar sein, wenn es der Tatbestandsverwirklichung durch Tun „entspricht“. Diese ➞ Entsprechensklausel hat für reine Erfolgsdelikte (§§ 212, 223 StGB) keine Bedeutung und braucht von Ihnen nicht erörtert zu werden, weil nur die Verursachung eines Außenerfolges ohne Rücksicht auf das „Wie“ strafbar ist.

Anders ist es aber bei Straftatbeständen, die besondere Handlungsweisen voraussetzen, bei denen es also vorwiegend auf dieses „Wie“ ankommt (Heimtücke, Grausamkeit bei § 211 StGB; Täuschung bei § 263 StGB; hinterlistiger Überfall bei § 224 StGB). Hier müssen Sie prüfen, ob das Unterlassen eine dem Tun entsprechende, gleichwertige Prägung besitzt, ob es also genauso heimtückisch und grausam ist, ein Kind zu ersticken wie es verhungern zu lassen. (Im Regelfall: Ja!)

 

  1. Rechtswidrigkeit

 

Mit der Tatbestandserfüllung ist auch bei Unterlassungsdelikten die Rechtswidrigkeit indiziert, es sei denn …

Besondere Bedeutung gewinnt hier ein nicht kodifizierter Rechtfertigungsgrund

 

Beispiel: Bei einem Segeltörn fallen gleichzeitig der Sohn Jupp und die Ehefrau Emma über Bord. Vater Peter rettet nur Jupp – Emma ertrinkt.

 

Beispiel: Gleicher Segeltörn: Ehefrau Emma und unbekannter Tourist Otto fallen ins Wasser. Peter rettet Emma.

 

Beispiel: Gleicher Segeltörn: Ehefrau Emma und unbekannter Tourist Otto fallen ins Wasser. Peter rettet Otto!

 

Im ersten Beispiel ist die Tat der Tötung der Emma, begangen durch Unterlassen gem. §§ 212, 13 StGB, aufgrund einer gewohnheitsrechtlich rechtfertigenden ➞ Pflichtenkollision nicht strafbar. Die Pflicht gegenüber dem Leben des Jupp kollidiert mit der Pflicht gegenüber dem Leben der Emma; § 1631 BGB gegen § 1353 BGB. Dies gilt hier entgegen § 34 StGB (!) auch bei der Kollision gleichartiger und gleichwertiger Rechtsgüter. (➞ Kollisionslage)

Im zweiten Beispiel liegt keine Pflichtenkollision vor. Hier verdrängt die dem Garanten Peter nur gegenüber seiner Ehefrau obliegende spezielle Rettungspflicht die dem Tourist Otto gegenüber bestehende allgemeine Hilfeleistungspflicht aus § 323c StGB.

Im dritten Beispiel stehen wir vor echten Problemen: Die Handlungspflicht des Peter aus seiner spezielleren Garantenpflicht kollidierte mit seiner allgemeinen Handlungspflicht aus § 323c StGB. Hier wird man wohl eine „entschuldigende Pflichtenkollision“ als Schuldausschließungsgrund anerkennen müssen – oder wollten Sie Peter wegen Totschlags durch Unterlassen bestrafen?

 

  1. Teilnahme an Unterlassungsdelikten

 

Beteiligt sich jemand durch Tun an einem Unterlassungsdelikt, ist ➞ Täterschaft und Teilnahme nach den allgemeinen Regeln möglich.

 

Beispiel: Liebhaber Reiner schlägt Ehefrau Emma vor, den volltrunken im kalten Schnee liegenden Ehemann Jupp erfrieren zu lassen. Das geschieht.

 

Emma: §§ 212 (211), 13 StGB

Reiner: §§ 212, 13, 26 StGB: Anstiftung durch positives Tun zum Totschlag durch Unterlassen

 

Anstiftung (§ 26 StGB) durch Unterlassen scheidet von vornherein aus, da ein Hervorrufen des Entschlusses („bestimmen“) nicht denkbar ist durch Nichttun.

Beihilfe (§ 27 StGB) durch Unterlassen ist allerdings denkbar. Beihilfe (§ 27 StGB) durch Unterlassen an einem Begehungs- oder auch Unterlassungsdelikt ist möglich, sofern der Gehilfe (Nachtwächter, Mutter) eine Garantenstellung bezüglich des Rechtsgutes der fremden Straftat hat.

Beispiel: Nachtwächter Jupp schreitet bei einem Einbruchsdiebstahl nicht ein, weil er seinen Chef ärgern will. Mutter schreitet gegen sexuellen Missbrauch ihrer Tochter nicht ein.

 

 

  1. Der Versuchsbeginn

 

Der Versuchsbeginn bei unechten Unterlassungsdelikten ist höchst umstritten.

Wenn die Mutter ihrem Kind mit Tötungsvorsatz die Nahrung vorenthält (gleiches gilt für Pflegepersonal im Altenheim!), so ist fraglich,

Also beginnt der ➞ Versuch der Rabenmutter Ottilie Huber nicht schon dann, wenn sie erstmals die Nahrung vorenthält, aber auch nicht erst beim letzten Unterlassen der Nahrungszufuhr, die dann unmittelbar in die Vollendung der Tötung übergeht, sondern dann, wenn das Kind in seinem Weiterleben akut gefährdet ist.