Nach unseren Grund-, Struktur- und Methodenüberlegungen jetzt konkret zu dem ersten Filter der Straftat – dem Tatbestand.
Jeder Straftatbestand des besonderen Teils stanzt aus der Fülle der Lebensvorgänge diejenigen heraus, die der Gesetzgeber grundsätzlich für strafbar hält. Er beschreibt die Tatbestandsmerkmale einer Straftat und damit im Wesentlichen die Welt des besonderen Teils des StGB mit seinem ethischen Minimalkonsens als Straftatenkatalog zum Schutz wichtiger Rechtsgüter. Eine Handlung in der Alltagswelt ist dann in der Strafrechtswelt, wenn sie mit den vom Gesetz im besonderen Teil des StGB genau beschriebenen Tatbestandsmerkmalen eines Delikts übereinstimmt. Hier findet man eine Vielzahl von geschriebenen Merkmalen, die ausgelegt und definiert werden müssen und unter welche man dann subsumieren muss. Die Vermögens- und Eigentumsdelikte, die Urkundsdelikte sowie die Delikte gegen Leib und Leben stellen das Exerzierfeld des Studenten dar, der Rest ist überwiegend Exotik.
Die Merkmale des Straftatbestandes werden unterschieden in:
- Geschriebene Tatbestandsmerkmale, das sind diejenigen, die der Gesetzgeber direkt im Gesetzestext fixiert hat.
- Ungeschriebene Tatbestandsmerkmale der Handlung und Kausalität, um die jeder Gesetzestext als ergänzt anzusehen ist.
- Deskriptive Tatbestandsmerkmale, z.B. „Sache“, „beweglich“
- Normative Tatbestandsmerkmale, z.B. „fremd“, „Urkunde“
- Qualifizierende Tatbestandsmerkmale, die im Verhältnis zum Grundtatbestand strafschärfende Wirkung haben (z.B. § 263 Abs. 5 zu § 263 Abs. 1 StGB).
- Privilegierende Tatbestandsmerkmale, die im Verhältnis zum Grundtatbestand strafmildernde Wirkung haben (z.B. § 216 zu § 212 StGB).
Der Tatbestand zerfällt in einen:
- objektiven Tatbestand, der das äußere Erscheinungsbild der Tat, also Täterkreis, Tathandlung, Taterfolg, Tatopfer, Tatmittel kennzeichnet und einen
- subjektiven Tatbestand, der die Vorstellungswelt des Täters, also Absichten, Motive und Gesinnung betrifft. Ob der Vorsatz zum subjektiven Tatbestand gehört, richtet sich nach Ihrer Entscheidung zur kausalen oder finalen Handlung.
Alle Tatbestände des besonderen Teils des StGB sind nach der Architektur des „Wenn-Dann-Konditionalprogramms“ gebaut. Sie enthalten alle auf der Voraussetzungsseite mehr oder weniger viele und mehr oder weniger kompliziert-abstrakte Tatbestandsmerkmale, die auszulegen und zu definieren sind und auf Ihre Subsumtion harren, auf der anderen Seite enthalten sie die Rechtsfolgen der Strafen. Sie werden alle nach derselben Methodik geprüft und sie sind alle miteinander verwandt. Die Verwandtschaft zeigt sich für Sie in Folgendem:
- Jeder Tatbestand ist die Summe seiner Tatbestandsmerkmale.
- Also müssen Sie den Tatbestand sezieren und in seine „Tatbestandsmerkmale“ zerlegen.
- TBMe logisch ordnen und einzeln sich vornehmen!
- Danach müssen Sie den Tatbestandsmerkmalen ihre Konturen geben; dieses geschieht durch Auslegung (Ausl).
- Die Auslegung mündet in eine Definition (Defi), die das TBM beschreibt und den nächsten Schritt erleichtert. Zu den Definitionen müssen Sie frühzeitig wissen, dass ohne einen gewissen Definitionsschatz ein vernünftiges Arbeiten im Strafrecht nicht möglich ist.
- Der nächste Schritt ist die Subsumtion (Subsu) unter jede einzelne Definition als die eigentliche juristische Arbeit.
- Danach ist jede Subsumtion durch ein Zwischenergebnis (ZwErg) abzuschließen.
Für Ihre Pinnwand:
- TBM 1 vornehmen: Auslegung 1 – Definition 1 – Subsumtion 1 – Zwischenergebnis 1: Passung zwischen Gesetzesstück TBM 1 und Sachverhaltsstück 1 klappt … oder klappt eben nicht.
- TBM 2 vornehmen: Auslegung 2 – Definition 2 – Subsumtion 2 – Zwischenergebnis 2: Passung zwischen Gesetzesstück TBM 2 und Sachverhaltsstück 2 klappt … oder klappt nicht.
- Merke: Zu TBM 2 darf ich erst fortschreiten, wenn das Ergebnis zu TBM 1 positiv feststeht.
Unter jedem Tatbestand des besonderen Teils „hängt“ somit immer folgendes Schema:
Die Garantiefunktion des Tatbestandes
Der Tatbestand ist die Summe der Tatbestandsmerkmale und damit im Wesentlichen die Welt des besonderen Teils des StGB mit seinem Straftatkatalog.
Da ist zum einen das Rückwirkungsverbot.
Für den Bereich des Strafrechts begründet Art. 103 Abs. 2 GG, wörtlich übereinstimmend mit § 1 StGB, eine Verfassungsgarantie für eines der Hauptprinzipien des Strafgesetzbuches:
Kein Verbrechen ohne Gesetz (lat.: nullum crimen sine lege). D. h. eine Tat kann nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit tatbestandlich-gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
Durch seine verfassungsrechtliche Verankerung ist dieses sog. Rückwirkungsverbot damit der Disposition des Gesetzgebers entzogen worden. Das Strafrecht ermöglicht der Staatsgewalt, dem einzelnen Bürger weitestgehende Beschränkungen bis hin zur lebenslangen Freiheitsstrafe aufzuerlegen. Gegen einen Missbrauch dieser staatlichen Eingriffsmöglichkeiten müssen für uns Bürger besondere Schutzvorkehrungen getroffen werden, um dem Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit zu genügen, nach der staatliche Willkür auszuschließen ist.
Dieser Nullum-crimen-sine-lege-Grundsatz wird ergänzt durch den in § 2 Abs. 1-3 StGB niedergelegten Grundsatz: Keine Straffolge, ohne dass diese vorher gesetzlich bestimmt war, d.h., auch Art und Maß der Strafe müssen bereits bei der Tat gesetzlich bestimmt sein (lat.: nulla poena sine lege). Nach h.M. wird die Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. 2 GG auch auf dieses Prinzip bezogen, obgleich Art. 103 Abs. 2 GG dies nicht ausdrücklich normiert.
Beispiel 1: Der 25-jährige Max unterhält mit dem 28-jährigen Moritz homosexuelle Beziehungen im Jahre X. Am 1.1. des Jahres X+1 tritt ein Gesetz in Kraft, welches § 175 StGB dahin abändert, dass sexuelle Handlungen unter Männern bestraft werden, und zwar rückwirkend ab 1.1.X. Können Max und Moritz strafrechtlich verfolgt werden?
Beispiel 2: Durch eine Gesetzesänderung wird am 1.10.X die Strafandrohung für Diebstahl rückwirkend auf den 1.1.X verschärft. Der mehrfach einschlägig vorbestrafte Theo hat am 1.9.X erneut einen Diebstahl begangen. Am 1.12.X kommt es zum Strafprozess. Kann Theo nach der verschärften Strafandrohung verurteilt werden?
Abwandlung: Der Gesetzgeber mildert am 1.10.X die für Diebstahl angedrohte Strafe.
Sie erkennen sofort, dass beide Gesetze verfassungswidrig sind, da zum einen rückwirkend für die männliche Homosexualität ein neuer Straftatbestand geschaffen wird, zum anderen für einen schon bestehenden Straftatbestand rückwirkend die Straffolge verschärft wird. Ist die neue Strafandrohung allerdings milder (Abwandlung), so muss der Richter diese zur Anwendung bringen (vgl. § 2 Abs. 3 StGB).
Sie müssen aber aufpassen, denn dieses allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot gilt nicht in allen Fällen:
- Art. 103 Abs. 2 GG findetkeine Anwendung im Strafprozessrecht, auch wenn der Wortlaut dieses Artikels wortgleich in § 1 des Strafgesetzbuches übernommen wurde. Sobald das neue Verfahrensrecht angewendet werden kann, muss dies geschehen. Das gilt ebenso für Verfahrensvoraussetzungen wie die rückwirkende Beseitigung des Antragserfordernisses (vgl. z.B. § 247 StGB) oder die Verlängerung laufender Verfolgungsverjährungsfristen (vgl. § 78 ff. StGB).
- Art. 103 Abs. 2 GGgilt ferner nicht für Maßregeln der Besserung und Sicherung (vgl. § 2 Abs. 6 StGB), die rückwirkend normiert und zur Anwendung gebracht werden dürfen. Diese nicht unbedenkliche Durchbrechung des Rückwirkungsverbotes – sind doch nicht selten diese Maßregeln viel härter als die Strafen – lässt sich damit begründen, dass § 2 StGB nur von Strafen spricht, es sich bei jenen aber um Präventivmaßnahmen handelt. Dem Täter soll eben jeweils das „Beste und Modernste“ an Medizin und Erziehung zukommen, was der moderne Gesetzgeber zu bieten hat.
- Art. 103 Abs. 2 GGgreift letztlich auchdann nicht ein, wenn sich die höchstrichterliche Rechtsprechung wandelt.
Danach ist es dem Richter nicht verwehrt, eine Tat zu bestrafen, obwohl die zur Tatzeit praktizierte Rechtsprechung dies nicht getan hätte. Würde also z.B. die aus Praktikabilitätsgründen an eine bestimmte Blutalkoholkonzentration gebundene absolute Fahruntauglichkeit in § 316 StGB durch den Bundesgerichtshof (BGH) reduziert, so wird das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung nicht geschützt. Nur das Gesetz, nicht der Richterspruch, ist maßgebend dafür, was verboten ist.
Zum anderen gehört der Bestimmtheitsgrundsatz zum Tatbestand.
Neben dem Rückwirkungsverbot („bevor“) erfasst die Garantiefunktion des Art. 103 Abs. 2 GG auch den Bestimmtheitsgrundsatz („gesetzlich bestimmt“). (Anders etwa die anglo-amerikanischen Rechtssysteme, die weitgehend auf Gewohnheitsrecht oder auf Richterrecht beruhen und nicht kodifiziert sind.) Die Tatbestandsmerkmale, die die Strafbarkeit kennzeichnen und beschreiben, müssen ebenso genau bestimmt sein wie die Rechtsfolgen. Unbestimmte und inhaltsleere Floskeln, die alles dem Richter überlassen, was die Voraussetzungen oder die Folgen strafbaren Verhaltens anbelangt, sind verfassungswidrig.
Beispiel: Unterstellen wir, der Gesetzgeber erließe wegen der zunehmenden Feindseligkeiten gegen Banken folgendes Gesetz: „Wer gegen die Interessen der Finanzwirtschaft handelt, wird mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft.“
Dieses Gesetz wäre sowohl in seinem Voraussetzungs- wie Rechtsfolgenteil mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar und folglich verfassungswidrig.
Leider neigt der Gesetzgeber im Interesse einer flexiblen Anpassung an den Einzelfall in bedenklichem Maße dazu, das Präzisierungs- und Konkretisierungsgebot nicht strikt anzuwenden. Es sei z.B. einmal anempfohlen, die Möglichkeiten auszurechnen, die einem Richter bei der Festsetzung der Strafe für einen Diebstahl zur Verfügung stehen (vgl. §§ 242, 243, 40 Abs. 1 Satz 2, 38, 39, 54 Abs. 2 Satz 2 StGB).
Schließlich sollte das Analogieverbot Ihren strafrechtlichen Blick kreuzen.
Aus § 1 StGB und Art. 103 Abs. 2 GG folgt ferner das Verbot strafbegründender und straferhöhender Analogie (griech.: ana = gemäß, entsprechend; logos = Wort, Vernunft, Satz), also das Verbot entsprechender Anwendung eines gesetzlich geregelten Tatbestandes auf einen gesetzlich nicht geregelten Einzelfall. Während im Bereich des Zivilrechts das Recht ständig fortentwickelt wird und bestehende Lücken im Gesetz reihenweise über Analogien geschlossen worden sind (man denke nur an: Culpa in contrahendo, Positive Vertragsverletzung [beides heute gesetzlich geregelt in § 280 BGB], Anwartschaftsrecht), ist eine solche Lückenschließung im Bereich des Strafrechts zum Nachteil des Täters nicht möglich. Kann sich der Zivilrichter niemals mit dem Hinweis begnügen, der zu entscheidende Fall sei gesetzlich nicht geregelt und könne von daher nicht entschieden werden, muss der Strafrichter in einem solchen Fall freisprechen.
Eine Analogie zugunsten des Täters ist allerdings immer zulässig.
Im Unterschied zu der durch die Garantiefunktion verbotenen Analogie steht die erlaubte und immer gebotene Auslegung.
Es gibt wohl keinen (!) strafrechtlichen Tatbestand, in dem nicht Auslegungsfragen von ganz erheblicher Bedeutung und Tragweite auftauchen. Schauen Sie nur in die unübersehbare strafrechtliche Literatur und führen Sie sich die Kommentierungen im „Schönke-Schröder“ zu Gemüte, um diesen Satz bestätigt zu sehen. Interessant ist, dass das erste moderne Gesetzbuch, nämlich das bayerische StGB aus dem Jahre 1813, in seinem amtlichen Begleittext allen Beamten und Gelehrten verbot, einen Kommentar zu verfassen. Man stelle sich eine solche Bestimmung bitte heute einmal vor!
Die heutigen Gesetze sind abstrakt und deshalb in ihrem Sinngehalt zunächst durch die historische, grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung zu ermitteln, bevor man den konkreten Sachverhalt auf die so ausgelegte Norm anwendet (Subsumtion). Auslegung der Norm und Subsumtion des Sachverhaltes sind die Hauptleistungen nicht nur des Strafjuristen. Es ist allerdings von äußerster Schwierigkeit, wenn nicht gar unmöglich, das Begriffspaar Analogie/Auslegung exakt voneinander abzugrenzen.
Zur Erinnerung: Würde Putzhilfe Emma die Frage, ob diese oder jene Person, dieser oder jener Gegenstand oder diese oder jene Gegebenheit noch unter das gesetzliche Merkmal passt, bejahen, dann handelt es sich um erlaubte Auslegung – würde sie diese Frage schroff verneinen, dann liegt eine unerlaubte Analogie vor. Die Auslegung eines Wortes findet eben ihre Grenze in der natürlichen Nachvollziehbarkeit im Volk. (Zu den Auslegungsmethode und zur Analogie sehen Sie bitte in „Juristische Entdeckungen – Bd. I“ nach.)
Durch das Rückwirkungsverbot, den Bestimmtheitsgrundsatz und das Analogieverbot zuungunsten des Täters, werden die Tatbestände im besonderen Teil des StGB zu einem ausschließlichen Katalog strafbaren Unrechts.
Sie sehen also, welche Bedeutung dem Tatbestand als der ersten Stufe des Verbrechens zukommt. Der Tatbestand garantiert die Strafbarkeit, aber eben auch die Nichtstrafbarkeit.