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Wer und was ist das Gesetz und wie geht man mit diesen sprachlichen Wunderwerken um?

Die drei wichtigsten Gegenstände zum Jurastudium sind nun einmal für den Jurastudenten: Gesetze, Gesetze, Gesetze, in denen das Recht als Zeitgeist fixiert ist

Das Gesetz ist der Souverän in unserem Staat. Es hat nach Jahrtausenden der Willkürherrschaft durch von „Gott“ eingesetzte Monarchen und selbst ernannte Diktatoren die demokratische Macht übernommen. Was es mit ihm auf sich hat, muss wissen, wer es als Jurastudent mit ihm aufnehmen will. Während Moses noch mit 10 Gesetzen auskam, benötigt der Jurastudent das Zigfache, allein im BGB 2385 Paragrafen! Aber seien Sie beruhigt: Auch hier gilt die Weisheit: Hinter der Vielheit der Gesetze steht eine Ordnung, die einfacher ist als ihre Vielheit. Alle Gesetze sind nämlich miteinander verwandt. Wir werden die Verwandtschaft jetzt kennen lernen.

Die harte Arbeit am und mit dem Gesetz ist eine Erkenntnis, die sich für einen Juristen von selbst verstehen sollte. Die Gesetze sind die Einzelteile unserer Rechtsordnung. Der Umgang mit dem Gesetz und dem sich in ihm spiegelnden Fall ist der Dreh- und Angelpunkt der Juristerei. Wer im 1. Semester anfängt, sollte möglichst schnell mehr und mehr an und mit diesen Gesetzen lernen, bevor er in professorale Meinungsstreitereien verfällt, Literatur- und Rechtsprechungsansichten „gesetzlos“ gegenüberstellt und mit vorgegebenen Argumentationen abgleicht. Das Gesetz ist kein leidiger Zusatztext zu juristischen Streitereien zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung in ellenlangen Bücherregalen. Das Gesetz ist immer (!) der Ausgangstext, es ist das A und O der Juristerei. Seine gewissenhafte Lektüre mag aufwendig sein, stets ist sie unverzichtbar.

Versuchen Sie es immer erst einmal selbst mit dem Gesetzestext, ehe Sie zu Kommentaren greifen. Sie müssen dabei gerade in Ihrem ersten Semester ganz im Gegensatz zu Ihren „Vorlesern“ ein uneingeschränktes Vertrauen in die prinzipielle Erkennbarkeit der Gesetze entwickeln. Sie müssen sich den Gesetzgeber als „vernünftig“ denken, womit dieselbe Vernunft logischerweise auch in den gesetzgeberischen Schöpfungen allgegenwärtig sein muss – eben in seinen Gesetzen. Im Gebrauch Ihrer eigenen Vernunft werden Sie folglich am gesetzgeberischen Willen teilnehmen, an einer grundsätzlich der Vernunft zugänglichen Welt. Wir werden gleich gewisse juristische Auslegungsmethoden entwickeln, um diese Welt zu entschlüsseln, sozusagen der Vernunft etwas auf die Sprünge zu helfen. Die Gesetze sind keine tote Materie. Sie müssen die Gesetze eben zum Leben bringen. Setzen Sie auf die gesetzgeberische und Ihre eigene Vernunft! Später, wenn Ihr Fundament fest steht, können Sie das Zutrauen einschränken und die Juristen mit ihren Gesetzen kritischer hinterfragen, dabei aber niemals Ihr Vertrauen verlieren.

Wurden im Anfang diese „Gesetze“ noch kraft Gewohnheitsrechts von Generation zu Generation mündlich „tradiert“, so änderte sich das mit der Erfindung der Buchdruckkunst gewaltig. Das „Gesetzbuch“ war bald das Buch, das alle bisherigen Gewohnheitsrechte ersetzte. Die „Rechte“ schrumpften zusammen auf papierene Paragraphen zwischen zwei Buchdeckeln. Buch und Gesetz waren eins! – Was im Buch stand, war Gesetz! –Aber in unserer modernen Zeit leider nur für einen Moment. Buch und Gesetz leben nämlich nur jeweils eine juristische Sekunde untrennbar zusammen. Danach driften sie wieder auseinander. Das Gesetz bleibt im Buch, seine Bedeutung zieht weiter. Immer wenn ein Gesetz eine Diskussion beenden soll, schafft sie gerade durch diese Operation eine neue Diskussion. Das Gesetz lässt sich eben durch ein Gesetzbuch nicht stillstellen! Schon am Tag des Inkrafttretens treten nämlich Deuter, Urteiler, Ausleger, Erklärer in Gestalt von Richtern, Rechtspflegern, Anwälten und Professoren auf den Plan und fügen dem jeweiligen Gesetz-„Buch“ Aufsätze, Urteile, Beschlüsse, Kommentare hinzu, die sich zu neuen „Büchern“ auswachsen, die man dann die „Juristische Literatur“ und die „Rechtsprechung“ nennt und aus denen irgendwann wieder neue Gesetze werden.

Alle Gesetze stammen aus dem Bereich der sog. normativen Gesetze. Bei den normativen (lat.: norma, Richtlinie; frei übersetzt: als Richtschnur dienend) Gesetzen unterscheidet man zwischen:

  • juristischen Gesetzen und
  • moralischen Gesetzen.


In beiden Arten wird eine „Richtschnur“ für menschliches Verhalten formuliert, zu deren Einhaltung die Menschen verpflichtet sind. Während bei „juristischen Gesetzen“ nur das äußere Verhalten vorgeschrieben wird nach den Kategorien „gesetzesgemäß“ und „gesetzeswidrig“, beziehen sich „moralische Gesetze“ auf die innere Haltung gegenüber den Handlungskategorien von „gut“ und „böse“. Verstöße gegen juristische Gesetze werden von staatlichen Instanzen geahndet. Die  Einhaltung moralischer Gesetze ist staatlich nicht erzwingbar. Die juristischen Gesetze gehören zu dem großen Bereich des Rechts, moralische Gesetze zu dem der Sitte und Ethik.

Man sieht sich im Bannkreis dieses Themas „Gesetze“ oft gezwungen, für Erstsemestler auf Offenkundiges hinzuweisen: Der Umgang mit der Hauptliteratur im Jurastudium, das sind nämlich die Gesetze, wird am Anfang zu wenig mit ihnen geübt! Die Hilfsliteratur, die Lehrbücher und Kommentare, haben leider oft schon zu Beginn der juristischen Ausbildung viel zu schnell die Lufthoheit über den juristischen Lehr- und Lernstühlen erobert.

Der Student lernt sein Ur-Handwerkszeug, das Gesetz, nicht richtig kennen! Die Arbeit am Gesetz und mit dem Gesetz wird in der Ausbildung vernachlässigt! Nicht von der Literatur zum Gesetz, sondern vom Gesetz zur Literatur, muss der Ausbildungsweg fortschreiten. Zunächst müssen

● sein programmatischer Aufbau studiert,

● die „ipsissima verba“, die „ureigenen Worte“, des Gesetzes, seine Tatbestandsmerkmale, geklärt werden,

● seine Auslegung trainiert,

● das Definieren geübt

● und der Umgang mit ihnen im Gutachten am Fall geübt werden,


ehe man sich in juristischen Theorien und Meinungsstreitereien verliert. Die Studenten sind bei einem solchen Vorgehen ohnehin längst auf der Strecke geblieben. Auch die schönste „Meinung“ Ihres Professors muss es nun mal ertragen, dass das Gesetz existiert. Nur das Gesetz verfügt über die Authentizität, die Echtheit – alles andere ist Beiwerk. Die Lehrmeinung muss sich an die Wirklichkeit des Gesetzes anpassen, nicht das Gesetz an die juristische Lehrmeinung. Lex est rex in terra iuris: Das Gesetz ist der König in Jurististan!

In der Klausur haben Sie nur dieses „Chamäleon Gesetz“ zur Hand, das nimmt Ihnen niemand weg! Es ist der Anker für Ihr juristisches Gedächtnis. „Ich habe die Lösung der Klausur nicht im Gesetz gefunden! Sie muss doch irgendwo stehen!“ Ja, tut sie! Sie haben aber leider das Gesetz nicht richtig gelesen! Und nur, wer schon beim Lernen mit dem Gesetz arbeitet, findet sich auch in der Klausur darin gut zurecht.

Ganz wichtig ist es, früh zu erkennen, dass jedes Gesetz einen doppelten Körper hat: einen sichtbaren und einen unsichtbaren. Den sichtbaren repräsentiert der Wortlaut, er erschließt sich durch die Auslegung und mündet in eine Definition. Der unsichtbare weist auf sein Ziel hin, das télos. Sie müssen sich zunächst immer für die Seiten der Gesetze interessieren, die sie Ihnen Wort für Wort zuwenden, aber sehr bald auch für die, die sie Ihnen hinter ihren Wörtern verbergen.

Die Grundlagen für den Umgang mit der Gesetzesarbeit müssen Sie im ersten Semester legen, da Sie von der Schule her mit einem solchen Umgang nicht vertraut sind. Nur Mut! Es sind im Anfang nicht viele Paragrafen. Es ist kein Kampf gegen Windmühlenflügel, Sie müssen den „Kampf mit dem Gesetz am Gesetz“ gewinnen. Malen Sie sich immer aus, welcher konkrete Fall hinter der gesetzlichen Regelung steht, welcher „Normalfall“ für den Gesetzgeber Pate gestanden hat.

Wenn Ihr Professor sagen sollte, das Gesetz sei noch zu kompliziert für Sie und zu abstrakt und lückenhaft, Sie sollten es beiseite legen, er müsse es Ihnen erklären und nur er könne das, glauben Sie ihm nicht. Lesen Sie es selbst nach! Der Gesetzgeber wird oft zu Unrecht als unpräzise, zu kurz, zu eng, zu lang, zu breit oder zu unsystematisch formulierend gescholten. Er kann als Gestalter vielfältiger Sachverhalte und Interessen oft nicht anders, als abstrakt und generalisierend zu formulieren. Das sollten Ihnen Ihre Professoren öfter klar machen. Stellen Sie die Gesetze nicht immer in Frage und springen Sie nicht gleich in die Sekundärliteratur der Kommentare und Lehrbücher. Das Gesetz hat Schwächen, aber mehr anerkennungswürdige Stärken, die den Schwächen meist überlegen sind. Es muss immer Ihr erster Ansprechpartner sein bei der Beantwortung sämtlicher Rechtsfragen. Die Gesetzeskenntnis, ihr folgend das Gesetzesverständnis, und die ständige Neugier, neue Gesetze in ihren Details zu ergründen, sind mehr wert als alles juristische Lehrbuch-Wissen. Lassen Sie deshalb das Gesetz immer einsatzbereit und einsprungbereit neben sich aufgeschlagen liegen, und lesen Sie jedes Gesetz nach! Lesen Sie es stets im Stile absoluter Gewissenhaftigkeit, besser noch: pedantischer Kleingeistkrämerei! Es lohnt sich wirklich!

Diese Gesetze fallen nun alle nicht vom Himmel! Sie sind von Menschen gemacht in einem komplizierten, verfassungsmäßig vorgeschriebenen Verfahren. Ihr Geburtsakt ist im Grundgesetz genauestens festgelegt und das „Kind“ Gesetz hat viele „Väter und Mütter“, die jedes Wort wohlüberlegt „gesetzt“ haben. Das wird Ihnen Ihr Verfassungsrechtsprofessor erklären. Wir steigen jetzt ins Innere der Gesetze ein.

Sie müssen sich von Anfang an darum bemühen, Gesetze aufregend und mit Entdeckerfreude zu erleben. Sie sind der Mittelpunkt unseres rechtsstaatlich-gesellschaftlichen Koordinatensystems, ich wiederhole mich hier gern, und sie sind hochkomplizierte und komprimierte sprachliche Konstrukte. Sie sind Denk- und Sprachkunstwerke! Sie sollten sich bald in einen einfühlsamen Übersetzer der Gesetze, in einen Dolmetscher des Gesetzgebers verwandeln – dies mit dem alleinigen Ziel, die Gesetze zu verstehen und die Spannungen zwischen Ihren Fällen und dem Gesetz zu entschärfen, wenn nicht gänzlich aufzulösen. Das geht tatsächlich! Wen das juristische Arbeiten mit dem Gesetz und immer hart am Gesetz erst einmal durch „begreifenden“ Erfolg infiziert hat, der ist geimpft gegen die angebliche Trockenheit und Langweiligkeit der Rechtswissenschaft und die angeprangerte Unverstehbarkeit ihrer Gesetze.

Das wichtigste Wesensmerkmal für die Führung der Gesellschaft durch die Gesetze ist das ihnen eingeborene Konditionalprogramm, einfacher ausgedrückt: ihr „Wenn-Dann-Grundsatz“.

Wer dieses Programm verstanden hat, hat schon viel verstanden! – Wenn der Voraussetzungsteil  vorliegt, … dann tritt der Rechtsfolgenteil in Kraft. Das Wort Konditionalprogramm setzt sich zusammen aus den Wörtern „konditional“ (lat.: bedingend) und „Programm“  (griech.: vorgesehener Ablauf, Konzeption). Aus der Funktion des Gesetzes, Regeln zu „setzen“, um Konflikte zu vermeiden oder zu beheben, die im Zusammenleben der Menschen eintreten können, folgt zwingend diese „bedingende Konzeption“ des Gesetzes, sein Programm. Deshalb müssen sie so sein, wie sie sind, denn Gesetze zielen als die Instrumente zur Steuerung von Recht immer auf die Begründung von Rechtsfolgen ab.

Diese fundamentale Erkenntnis des Konditionalprogramms gilt für alle Gesetze.

Lässt sich für uns aber gut an dem einprägsamen Gebiet des Strafrechts verdeutlichen: Sie wissen schon, dass sich die rechtlichen Voraussetzungen für eine Bestrafung aus den Tatbeständen des besonderen Teils des Strafgesetzbuches ergeben. Die Grundstruktur sämtlicher dieser Paragraphen lautet immer gleich: „Wenn du das und dastust oder unterlässt, dann wirst du mit dem und dem bestraft.“ Um dieses „Das und Das“ geht es in der Lehre vom Tatbestand, in der Lehre der Rechtswidrigkeit und in der Lehre der Schuld, um das „Dem und Dem“ bei den Rechtsfolgen der Freiheitsstrafe oder Geldstrafe.

Und genauso spielt sich dieses Programm im BGB ab: „Wenn Du das und das tust oder unterlässt, dann kannst Du das und das verlangen“ oder „dann bist Du zu dem und dem verpflichtet“.

Für den rechtsanwendenden Studenten ist „Recht“ ja immer dann gegeben, wenn die Rechtsfolgen für die Fragen seiner Klausur: „Hat sich T strafbar gemacht?“ – „Kann A von B eine Leistung verlangen?“  – „Kann sich X mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das staatliche Handeln wehren?“ aus den Voraussetzungen eines Gesetzes des StGB, des BGB oder der Verfassung abgeleitet werden können. Das ist dann der Fall, wenn die Voraussetzungen eines Straftatbestands des StGB, einer Anspruchsgrundlage des BGB oder einer Rechtsverletzung des Grundgesetzes erfüllt sind.


Also, wir halten fest: Den Gesetzen des BGB und des StGB liegt die Normstruktur des konditionalen Wenn-dann-Programms zugrunde. Das heißt:

  • Gesetze abstrahieren von den konkreten Umständen des Einzelfalles,
  • Gesetze generalisieren von den Personen und
  • Gesetze implementieren in jede Norm einen abstrakt-generellen (Wenn)Voraus-setzungs- und (Dann)Rechtsfolgeteil.


Die Rechtsnorm, die die gesuchte Rechtsfolge jedes juristischen Falles abstrakt enthält, ist die Antwortnorm. Eine Antwortnorm ist ein Spezialgesetz, aus dem die Rechtsfolge (Dann), die in der straf- oder zivilrechtlichen Aufgabenstellung verlangt wird, selbst und unmittelbar aufgrund des Sachverhaltes hergeleitet werden kann.

  • Wichtigste Antwortnormen auf die Fallfrage, ob ein Bürger von einem anderen Bürger im Privatrecht etwas verlangen kann, sind die sog. Anspruchsgrundlagen.
  • Im StGB sind die Straftatbestände des besonderen Teils die Antwortnormen, deren Rechtsfolgen mit der strafrechtlichen Fallfrage korrespondieren.


Wir haben schon festgestellt, dass es Aufgabe und Zweck der Rechtsordnung ist, das menschliche Zusammenleben zu regeln. Das konkrete Mittel zu diesem Zweck der Regelung ist die einzelne Rechtsnorm, das Gesetz. Es stellt die Voraussetzungen auf und enthält eine Rechtsfolge, die sich auf das Verhalten von Personen bezieht, wobei insbesondere Gebote und Verbote normiert werden. Ein Teil dieser Rechtsordnung ist das StGB, ein anderer das BGB.

Wenn als erste Voraussetzung für das Vorliegen eines Straftatbestandes die haargenaue Erfüllung sämtlicher Tatbestandsmerkmale des besonderen Teils des Strafgesetzbuches und für das Vorliegen einer Anspruchsgrundlage im BGB die hundertprozentige Erfüllung sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen erforderlich ist, so kann das selbstverständlich nicht heißen, dass der Tatbestand im Einzelnen die konkrete Straftat der konkreten Täterin „Moni“ beschreiben muss oder die Anspruchsgrundlage genau den zu entscheidenden zivilrechtlichen Fall für „Moritz“ oder „Bäcker Kraus“ festlegt.

·   § 242 StGB (Diebstahl) lautet nicht:

„Wenn Moni der Steffi die Brieftasche aus der Handtasche zieht, um das Geld zu verjubeln, dann wird sie mit Gefängnis bestraft.“

Statt „Moni“ steht im Gesetz: „wer“; statt „Steffi“: „einem anderen“; statt „Steffis Brieftasche“ heißt es: „eine fremde bewegliche Sache“; statt „aus der Handtasche zieht“: „wegnimmt“; statt „um es zu verjubeln“ lautet es: „in der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen“.

·   § 823 Abs. 1 BGB lautet nicht: „Wenn Max den Moritz durch Missachtung der Vorfahrt schwer verletzt, dann muss er Krankenhauskosten und Verdienstausfall in Höhe von 1.000 € bezahlen“.

Statt „Max“ heißt es abstrakt: „wer“; statt „Moritz“ „einen anderen“; statt „schwer verletzt“ heißt es: „den Körper und die Gesundheit … verletzt“; statt „durch Missachtung der Vorfahrt“ steht geschrieben: „vorsätzlich oder fahrlässig“ und „widerrechtlich“; statt „Krankenhauskosten und Verdienstausfall“ heißt es: „Ersatz des daraus entstehenden Schadens“.

·   § 433 Abs. 2 BGB lautet nicht: „Wenn Susanne bei Bäcker Kraus zwei Brötchen kauft, dann muss sie 1  € zahlen.“

Statt „Susanne“ steht im Gesetz: „der Käufer“; statt „Bäcker Kraus“: der „Verkäufer“; statt „zwei Brötchen“: „eine Sache“; statt „1 €“: „den Kaufpreis“; statt „dann muss sie zahlen“: „ist verpflichtet, den Kaufpreis zu zahlen“.

Kein Gesetzgeber könnte sämtliche Fälle, die das Leben schreibt, vorausdenken – immer wieder müsste er sich durch die Wirklichkeit korrigieren lassen. Also wählte man für die Rechtsnormen sowohl auf der Voraussetzungs- als auch auf der Rechtsfolgenseite abstrakte und generalisierende Begriffe, da Gesetze als allgemeine Regeln notwendig von den konkreten Umständen des Einzelfalles (deshalb abstrakt) und den handelnden Personen (deshalb generalisierend) absehen müssen. Es gibt kein Gesetz, das gerade und genau für den konkreten Fall „Moni“, „Moritz“ oder „Bäcker Kraus“ geschaffen ist. Allerdings gibt es verschiedene Grade von Abstraktheit. Unsere modernen Gesetze zeichnen sich durch eine starke Abstraktion aus.

Aus dieser notwendigen abstrakt-generalisierenden Begrifflichkeit der Normen folgt „not“-wendig, dass die Voraussetzungen des Gesetzes zur Anwendung auf den konkreten „Fall“ ausgelegt, entfaltet und definiert werden müssen. Diese Arbeit ist eine Hauptaufgabe des Juristen und wir werden sie gleich kennen lernen. Der Preis für die Abstraktheit ist eben, dass kein Gesetz so genau formuliert werden kann, dass sich damit jeder Fall, der irgendwann auftaucht, ohne weiteres lösen lässt. Das konkrete Leben bricht immer wieder mit „Monis“, „Susannes“ und „Mäxen“ in die abstrakten Gesetze ein. Das Recht hat ständig und ausschließlich mit einbrechendem Leben zu tun – mit Fällen. Sie, ausschließlich sie, füttern den täglichen Entscheidungsapparat für die Rechtsprechung in den Gerichten. Dabei sind Recht und Gesetz Gefangene der jeweiligen Zeit. Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt weder in der Gesetzgebung, noch in der Rechtswissenschaft, noch in der Rechtsprechung, sondern in der pulsierenden Gesellschaft selbst. Und unsere Gesetze reagieren und regieren immer mit dem gleichen Programm: Wenn – dann! Wenn – dann! Wenn – dann; ihrem Konditionalprogramm.

Was die Juristerei mit einem Gesetzestext so alles anfangen kann, möchte ich Ihnen einmal anhand des Betrugstatbestandes, § 263 StGB, vorführen.


§ 263 Betrug

(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Abrechnungsbetrug – Anstellungsbetrug – Besitzbetrug –Bettelbetrug – Blinder Passagier – Beweismittelbetrug – Darlehnsbetrug – Eingehungsbetrug – Erfüllungsbe-trug –Erbschleicherei – Forderungsbetrug – Heiratsschwindel – Kreditbetrug – Plagiat – Prozessbetrug –Reklameanpreisung – Sozialversicherungsbetrug – Sportbe-trug – Sportwettenbetrug – Spendenbetrug – Subventionsbetrug – Tankstellenbetrug – Versicherungsbetrug – Zechprellerei

Die Verfassungsmäßigkeit des Tatbestandes und seine „unbegrenzte“ Auslegung durch die Rechtsprechung wurde in der Vergangenheit kaum problematisiert.

Man kann die Gesetze auch noch auf eine andere Art als mit dem Dietrich des Konditionalprogramms öffnen! Dazu bedienen wir uns einer List in Form einer Seziertechnik.

Diese „Gesetzesentschlüsselungstechnik“ ist raffiniert einfach und einfach raffiniert. Mit ihr schaffen Sie es, den stummen Sprachwerken die Zunge zu lösen. Wenn Sie die äußerst komprimierten, häufig mehrere Alternativen enthaltenden Gesetzesformulierungen in ihren jeweiligen Voraussetzungs-Rechtsfolgen-Segmenten nicht auf Anhieb verstehen, in denen manchmal auch noch neben der Regel die Ausnahme sprachlich eingewoben ist, „sezieren“ Sie die Paragraphenungeheuer! Alphabetisieren Sie die Normen auf ein Ihnen verständliches Sprachniveau herunter, und Sie werden sehen, die Gesetze verlieren schlagartig an Kompliziertheit. Sie haben einen Paragraphen erst dann richtig begriffen, wenn Sie ihn in seine kleinsten Einzelteile zerlegen und wieder zusammenbauen können.

Machen Sie bitte mal mit und schlagen Sie die genannten Paragrafen auf.


Ein erstes Beispiel aus dem BGB:

Als erstes Beispiel möge der § 181 BGB dienen, über den insoweit Einigkeit besteht, als dass ihn auf Anhieb niemand versteht. Er wird bald unausweichlich auf Sie zukommen. Lesen Sie bitte diesen Paragraphen! Machen Sie jetzt mit mir „mehr“ aus dem Paragraphen! Aus eins machen wir drei! Wir spielen jetzt Gesetzgeber und formulieren ihn um, indem wir seine Alternativen zu neuen Paragraphen bündeln, „§§ 181 a, 181 b, 181 c BGB“, und ihn so neu gestalten:

§ 181 a: Ein Vertreter kann im Namen des Vertretenen mit sich im eigenen Namen ein Rechtsgeschäft nicht vornehmen (Insichgeschäft).

§ 181 b: Ein Vertreter kann im Namen des Vertretenen mit sich als Vertreter eines Dritten ein Rechtsgeschäft nicht vornehmen (Mehrfachvertretung).

§ 181 c: In Abweichung der §§ 181 a, 181 b kann ein Vertreter selbstkontrahieren oder eine Mehrfachvertretung doch vornehmen, wenn

1.  es ihm gestattet ist oder

2. das Rechtsgeschäft ausschließlich in der Erfüllung einer Verbindlichkeit besteht oder

3.  es rechtlich lediglich vorteilhaft ist (ständige Rechtsprechung).

Die Rechtsfolge ist übrigens trotz seines Wortlautes „kann nicht“ nicht die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts, sondern entsprechend § 177 BGB schwebende Unwirksamkeit.


Ein zweites Beispiel aus dem Strafrecht:

Wenn Sie im Strafrecht zu § 267 StGB (Urkundenfälschung) gelangen, ein gesetzgeberisches Meisterwerk an sprachlicher Dichte, nehmen Sie sich zunächst genügend Zeit, diese Norm zu studieren. Versuchen Sie einmal, aus den drei Alternativen dieses Straftatbestandes drei selbständige Paragraphen zu texten. Schnell und mit kreativer Entdeckerfreude haben Sie die fiktiven „§§ 267 a, 267 b, 267 c StGB“ erschlossen.

§ 267 a: Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde herstellt, wird bestraft.

§ 267 b: Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine echte Urkunde verfälscht, wird bestraft.

§ 267 c: Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte oder verfälschte Urkunde gebraucht, wird bestraft.


Nunmehr stellen Sie die Tatbestandsmerkmalspakete zusammen und arbeiten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus:

§ 267 a:       Urkunde –  zur Täuschung im Rechtsverkehr –  unechte herstellen.

§ 267 b:       Urkunde –  zur Täuschung im Rechtsverkehr –  echte verfälschen.

§ 267 c:       Urkunde –  zur Täuschung im Rechtsverkehr – unechte oder verfälschte gebrauchen.

Zur Überprüfung der gelernten „Seziertechnik“ wollen wir jetzt § 873 Abs. 1 BGB in die „§§ 873 a, 873 b, 873 c, 873 d und 873 e BGB“ sezieren. Wir erarbeiten ganz stur für jede „verkeilte“ Alternative das jeweilige sezierte Konditionalprogramm! Erst mal § 873 Abs. 1 BGB lesen! Und jetzt geht es los:

§ 873 a: „Zur Übertragung des Eigentums an einem Grundstück ist die Einigung des Berechtigten und des anderen Teils über den Eintritt der  Rechtsänderung und die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch erforderlich.“

§ 873 b:„Zur Belastung eines Grundstücks mit einem Rechte ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.“

§ 873 c:„Zur Übertragung eines belastenden Rechtes (vgl. § 873 b) ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.“

§ 873 d: „Zur Belastung eines belastenden Rechtes (vgl. § 873 b) ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.“

§ 873 e: „Die Paragraphen 873 a bis 873 e gelten nicht, wenn das Gesetz ein anderes vorschreibt.“


Sie stellen nach den drei Beispielen jetzt viel besser als vorher fest, was die Alternativen des Gesetzes sind, was sie verbindet und was sie trennt. Sie sehen, wie sich die sezierte Norm von selbst öffnet und ihren Inhalt preisgibt. In Zukunft können Sie mit der Seziertechnik und dem Konditionalprogramm selbst die Gesetze auseinandernehmen, aufschlüsseln oder umprogrammieren, kurz und klein stutzen oder anwachsen lassen. Der Charme dieser Gesetzesaufschlüsselungstechnik besteht darin, dass sie so einfach ist und immer funktioniert. Sie werden sie hoffentlich nicht mehr vergessen.

Wenn Sie ab jetzt ein neues Gesetz oder ein neues Rechtsinstitut angehen, abstrahieren Sie es zunächst von allen momentan unwichtigen Details in den Absätzen 1 bis 5. Lesen Sie dann mit dem Zeigefinger mehrmals nur Absatz 1 des Gesetzes – Wort für Wort! Ziehen Sie alles Unwichtige ab! Steigen Sie ein ins Gesetz! Öffnen Sie das Gesetz mit dem „Konditionalprogramm“: Wenn-Dann! Präparieren Sie mit dem „Sezierbesteck“ die einzelnen Bausteine der Tatbestandsmerkmale heraus! Was will das Gesetz regeln? – Was ist sein télos? – Was sind seine Tatbestandsmerkmale? – Was ist seine Rechtsfolge?

Das Lernen von Jura besteht in der Erarbeitung einer juristischen Kunstfertigkeit zur Auslegung, Deutung, Übersetzung und Erklärung von Gesetzen, um dann Lebenssachverhalte diesen Gesetzen sicher, präzise und klar zuordnen zu können. Dieses auslegende Verfahren ist nicht nur die Methode der historischen und philosophischen Geisteswissenschaftler und der schriftgelehrten theologischen Wissenschaftler, sondern auch die richtige Methode für uns „Gesetzeswissenschaftler“. Gesetz ist eben nicht nur Sprache, sondern immer ein Stück Interpretation und Auslegung. Ich komme bald darauf zurück.

...

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